Lipödem bewegt das Netz. Was steckt wirklich hinter der Erkrankung? Betroffene und Experten geben Antworten.
„Kein Modetrend und keine Ausrede“Was hinter dem Social-Media-Boom um Lipödem steckt

Die Betroffenen Anna Stamm und Cynthia R. sprechen offen über ihre Diagnose und Erfahrungen mit Lipödem.
Copyright: Anna Stamm/Cynthia R.
Auf Social Media ist immer häufiger von Lipödem die Rede: Frauen machen Videos und Fotos von ihren Beinen und Armen, berichten über Schmerzen, blaue Flecken, Operationen und darüber, wie schwer es ist, ernst genommen zu werden.
Allein auf Instagram finden sich unter dem Hashtag #Lipödem über 300.000 Beiträge (Stand: Juni 2025), auf TikTok sind es rund 98.700 Videos. Einzelne Clips erzielen dabei Aufrufzahlen von bis zu 10 Millionen. In nur einem Monat – von Mai bis Juni 2025, verzeichnete das Social-Media-Monitoring-Tool „Brand24“ eine geschätzte Reichweite von 3,48 Millionen Nutzern mit knapp 75.000 Reaktionen auf Beiträgen, in denen das Wort „Lipödem“ vorkommt.
Erkrankung oder Trend-Diagnose? Was wirklich hinter Lipödem steckt
Die Beiträge erreichen Hunderttausende und rufen ebenso viel Anteilnahme wie Skepsis hervor. Ist Lipödem eine Krankheit, die bislang zu wenig beachtet wurde? Oder erleben wir gerade die Etablierung einer neuen „Trend-Diagnose“, mit der sich Übergewicht und Fettabsaugungen rechtfertigen lassen?
Um das herauszufinden, haben wir mit zwei betroffenen Frauen gesprochen, die offen über ihre Diagnose und ihre Erfahrungen berichten, sowie mit drei Fachärzten, die die Erkrankung aus medizinischer Sicht einordnen.
Frühe Symptome, fehlende Antworten – langer Weg zur Lipödem-Diagnose
Cynthia R. (32) aus Köln war etwa 16 Jahre alt, als sie zum ersten Mal die unangenehmen Veränderungen an ihrem Körper bemerkte. Ihre Arme wurden plötzlich voluminöser, begannen zu schmerzen – selbst leichte Berührungen wurden zur Qual. „Ich bin nachts aufgewacht, weil ich solche Schmerzen hatte“, erinnert sich die technische Beraterin. Damals sprach die heute 32-Jährige ihre Frauenärztin darauf an. Die Antwort: „Jede Frau nimmt das halt anders wahr.“ Cynthia R. fühlte sich nicht ernst genommen. Ein Gefühl, das sie viele Jahre begleiten sollte.

So sahen Cynthia R.s Beine und Arme vor der Lipödem-OP aus.
Copyright: Cynthia R.
Mit 25 Jahren, nach Absetzen der Pille hätten sich die Symptome verstärkt. Blaue Flecken kamen plötzlich hinzu, ohne dass sie sich gestoßen habe, sagt die gelernte Hochbauingenieurin. Zudem sei sie sportlich viel aktiv gewesen. „Meine Beine sind immer richtig doll geschwollen nach Belastung, und wenn es warm gewesen ist, habe ich richtig gemerkt, dass da Wasser drinsteht“, berichtet Cynthia R.
Diese Beschwerden hätten sie stutzig gemacht. Schließlich habe ihr Freund sie auf die Erkrankung Lipödem aufmerksam gemacht. In ihrem Kopf hatte Cynthia R. ein Bild von Frauen mit „stämmigen, säulenartigen Beinen und einem generell kräftigeren Körperbau“. Sie beschreibt ihre Figur rückblickend als „normal“ und sagt, sie habe lange Schwierigkeiten gehabt, ihr eigenes Körperbild mit dem gängigen Erscheinungsbild von Betroffenen in Einklang zu bringen.

Auf diesem Foto sieht man Cynthia R.s Beine links vor der Liposuktion und rechts nach der Behandlung.
Copyright: Cynthia R.
Nach mehreren erfolglosen Arztbesuchen erhielt Cynthia R. schließlich mit 31 Jahren in einer Fachklinik für Lipödem die Bestätigung ihrer Verdachtsdiagnose. 2024 wurde die Erkrankung offiziell bei ihr bestätigt. „Ich war erleichtert, weil ich endlich eine Erklärung dafür hatte, warum mein Körper anders funktioniert“, sagt die Kölnerin heute.
„Ich dachte, ich bin schuld“ – Anna Stamms Erfahrung mit Lipödem
Ähnlich ging es auch Anna Stamm (28). Zehn Jahre lang habe sie mit dem Gefühl gekämpft, ihr Körper funktioniere anders als bei anderen. Durch unzählige Diäten und Sportarten sei ihr Oberkörper zwar schmaler geworden, Beine und Arme wären jedoch gleich geblieben.
Für die 28-Jährige sei die Situation mental sehr belastend gewesen, erzählt sie. Die Schmerzen habe sie zunächst hingenommen und nicht mit Lipödem in Verbindung gebracht. „Ich dachte, ich mache einfach irgendwas falsch. Dass ich schuld bin“, sagt Anna Stamm rückblickend. 2022 habe ihr Hausarzt eine Vermutung geäußert. Erstmals sei der Begriff Lipödem gefallen. Mit 25 Jahren erhielt sie schließlich die Diagnose: Lipödem.
Beide Frauen haben sich letztendlich für Liposuktionen an Armen und Beinen entschieden, bei denen krankhaftes Fett radikal abgesaugt wird. „Die Heilungsphase war die schlimmste Zeit meines Lebens“, sagt Cynthia R. heute. „Aber ich wusste: Das ist meine Chance, meine Schmerzen zu lindern.“
Lipödem: Eine chronische Krankheit, kein Lifestyle-Problem
Was genau ist Lipödem eigentlich? Dr. Afschin Fatemi, Facharzt für Dermatologie mit Schwerpunkt Dermatochirurgie und ästhetischer Medizin sowie Gründer der S-thetic Gruppe, beschreibt es so: „Das Lipödem ist eine chronische, fortschreitende Fettverteilungsstörung, bei der sich das Fettgewebe – meist an Beinen und Armen – unproportional zum restlichen Körper vermehrt.“
Weiter erklärt der Mediziner: „Im Gegensatz zu einfachem Übergewicht lässt sich das Lipödem nicht durch Diät oder Sport reduzieren. Typisch sind Schmerzen, Druckempfindlichkeit und eine leichte Neigung zu blauen Flecken.“ Das Lipödem ist laut Dr. Fatemi keine Frage der Lebensführung, sondern eine medizinische Erkrankung mit klaren Symptomen.

Anna Stamms Beine in drei Phasen: Links vor der Lipödem-OP, in der Mitte und rechts kurz nach der Behandlung.
Copyright: Anna Stamm
Trotzdem kann es länger dauern, bis die Diagnose gestellt wird. Denn: „Es gibt kein Labor, was abgenommen werden kann, keine Röntgenuntersuchung, keinen Ultraschall, mit dem ich sagen kann: Das ist ein eindeutiges Lipödem“, sagt Dr. Klaus J. Walgenbach (62), Facharzt für plastische und ästhetische Chirurgie und Leiter der plastischen Chirurgie an der Uni Bonn.
„Die Diagnose basiert auf der Anamnese, der Untersuchung und typischen Beschwerden“, erklärt der Schönheitschirurg weiter. Viele Hausärztinnen und Hausärzte stecken laut Dr. Walgenbach das Lipödem noch immer mit Adipositas in eine Schublade.
Die Rolle von Social Media: Aufklärung mit Schattenseiten
Betroffene sehen sich hingegen regelmäßig mit dem Vorwurf konfrontiert, Lipödem sei eine „Modekrankheit“ oder eine neue „Ausrede für Übergewicht“. Vor allem auf Social Media begegnen ihnen Kommentare wie: „Jetzt haben plötzlich alle Lipödem“. Aussagen, die verletzen können – und zeigen, wie wenig über das Krankheitsbild bekannt ist.
Auf die Frage, ob Lipödem ein medizinisch verpackter Weg sei, um sich Fett absaugen zu lassen, sagt Cynthia R.: „Nein, das Gegenteil ist der Fall. Eine Lipödem-Operation ist teuer und die Kosten liegen zwischen 20.000 und 30.000 Euro pro Behandlungsverlauf. Das macht niemand einfach so. Das macht man, weil der Leidensdruck groß ist.“ Auch die Selbständige Anna Stamm missbilligt solche Aussagen: „Das ist absoluter Schwachsinn, weil man keine Klinik finden wird, die ohne vernünftige Diagnose operiert.“
Lipödem wird noch immer fälschlich als Übergewicht abgetan
Auf Social Media ist das Thema Lipödem mittlerweile stark präsent. Immer mehr Frauen teilen dort ihre Erfahrungen – ein mutiger Schritt, der laut Cynthia R. und Anna Stamm viel bewegt hat. „Früher war es peinlich, über Krankheiten zu reden. Heute ist das anders. Und das ist gut so“, sagt Anna Stamm. Dass Lipödem als „Trenddiagnose“ gesehen wird, sehen beide kritisch.
„Ich glaube, dass es immer ein Phänomen ist, was automatisch in den Köpfen der Leute entsteht, sobald mehr darüber geredet wird. Und ich glaube auch, dass der Algorithmus gerade bei jungen Frauen da einfach sehr krass mit reinspielt“, so Cynthia R. „Natürlich gibt es schwarze Schafe, Leute, die damit Geld verdienen wollen, ohne fundiertes Wissen“, ergänzt Anna Stamm. Vor allem Angebote für teure Coachings oder „Lipödem-Diäten“ kritisieren beide scharf.
Dr. Walgenbach erklärt sich das gestiegene Interesse an der Krankheit so: Ein wesentlicher Anstoß sei ein Erlass des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn gewesen. „Da gab es einen ministeriellen Erlass, dass die ganz ausgeprägten Fälle des Lipödems – also Stadium drei – von der Krankenkasse übernommen werden. Das war der Startschuss.“ In Deutschland gebe es „schätzungsweise 3,5 bis 4 Millionen Betroffene – fast ausschließlich Frauen“, so Dr. Walgenbach.
Auch Dr. Kai Klasmeyer (49), plastischer und ästhetischer Chirurg mit eigener Klinik in Köln, bemerkt einen enormen Zuwachs an Aufmerksamkeit über Social Media: „Dass jetzt auf einmal jeder zweite Experte ist, sehe ich extrem kritisch, weil die Zahl der Patientinnen, die zu mir kommen und nicht vernünftig operiert sind, seit zwei, drei Jahren zunimmt.“ Dr. Walgenbach stellt fest: „Um das ganze Thema Lipödem ist schon ein Markt entstanden. Die einen verkaufen Diäten, die nichts bringen, die anderen bieten Kompressionswäsche an.“
Wenn medizinische Not zur lukrativen Marktlücke wird
„Es ist unethisch, mit einer chronischen Erkrankung Geld zu verdienen“, sagt Dr. Klasmeyer. „Das darf eigentlich nicht sein und man nutzt wirklich die Hilflosigkeit dieser Menschen aus, weil sie einfach eine chronische Erkrankung haben und durch dieses Übermaß an Informationen völlig verunsichert sind.“ Diese Einschätzung teilt auch Dr. Fatemi: „Wenn komplexe medizinische Themen auf Social Media stark vereinfacht oder emotionalisiert werden, kann das zu Fehldiagnosen führen.“

Dr. Kai Klasmeyer ist Facharzt für plastische und ästhetische Chirurgie.
Copyright: Dr. Kai Klasmeyer
Auf die Frage, ob Lipödem für übergewichtige Frauen als „Schutzetikett“ genutzt wird, antwortet Dr. Klasmeyer: „Natürlich ist es auch einfacher, alles auf das Lipödem zu schieben. Aber man muss sehr genau hinschauen: Handelt es sich wirklich um ein Lipödem, also eine krankhafte Fettverteilungsstörung oder eine Übergewichtsproblematik?“ Trotzdem sei die Erkrankung real. „Der Hype, der darum gemacht wird, ist dadurch bedingt, dass es wirklich viele Betroffene gibt“, sagt der Schönheitschirurg.
Alle Experten betonen: Die Diagnose gehöre in die Hände medizinischer Fachkräfte. Gleichzeitig räumen sie ein, dass Social Media geholfen habe, die Erkrankung sichtbarer zu machen. „Viele Patientinnen hätten sonst nie den Mut gehabt, überhaupt einen Arzttermin zu vereinbaren“, sagt Dr. Walgenbach.

Anna Stamm während einer manuellen Lymphdrainage und abgesaugtes Fett nach der zweiten OP von Anna, bei der Oberschenkel, Arme und Unterbauch abgesaugt wurden.
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Was medizinisch unstrittig ist: Lipödem lässt sich weder durch Sport noch durch Diäten heilen. Konservative Maßnahmen wie Kompressionsstrümpfe oder Lymphdrainagen können Symptome lindern, aber nicht die Ursache bekämpfen. Die Fettabsaugung (Liposuktion) nennen alle drei Fachärzte als einzige effektive Behandlung, bei der man „den Ort des Geschehens, wo die Krankheit sitzt und entsteht, entfernt, weil die Fettzellen, die verändert sind, abgesaugt werden“, sagt Dr. Walgenbach.
Betroffene fordern frühzeitige Hilfe bei Lipödem – nicht erst im Endstadium
Doch genau diese Operation wird bisher nur in fortgeschrittenem Stadium (III) von den Krankenkassen übernommen. Betroffene wie Anna Stamm fordern ein Umdenken: „Warum muss es erst so schlimm werden, bevor man Hilfe bekommt?“ Die medizinische Notwendigkeit der OP sei klar belegt – trotzdem bleiben viele auf den Kosten sitzen.
Anna Stamm und Cynthia R. wünschen sich eins: Gehört und ernst genommen zu werden. Denn Lipödem sei „kein Modetrend, keine Ausrede und keine Einbildung. Es ist eine ernstzunehmende, chronische Erkrankung, die viele Frauen betrifft – auch wenn man es ihnen nicht immer ansieht“, so Anna Stamm.
Selbstdiagnosen helfen nicht – bei Verdacht zum Facharzt
Die Experten sowie die Betroffenen raten allen Frauen, die ähnliche Symptome erleben – etwa eine unproportionale Gewichtszunahme an Beinen oder Armen, unerklärliche blaue Flecken, Schmerzen bei Berührung oder nach Belastung, unbedingt einen Facharzt oder eine Fachärztin aufzusuchen. Selbstdiagnosen helfen nicht, aber Schweigen auch nicht.
Für Cynthia R. und Anna Stamm ist klar: Sie sind keine Mitläufer eines Trends. Ihre Geschichten stünden exemplarisch für viele Frauen, die jahrelang mit Schmerzen, Scham und Selbstzweifeln leben mussten – bis sie endlich ernst genommen wurden. „Redet darüber. Traut euch, etwas zu sagen. Lasst euch nicht abspeisen, es lohnt sich“, sagt Cynthia R.