Karriereende eines TennisgeniesWie Federers Kunst über Gewalt triumphierte

Tennis-Star Roger Federer hat sein Karriereende angekündigt. (Archivbild)
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Eigentlich ist es erstaunlich, dass Roger Federer so selten in den Feuilletons auftaucht. Immerhin ist es nichts anderes als Kunst, was dieser Mensch seit mehr als 20 Jahren auf dem Tennisplatz tut. Kein Spieler hat schnellste Schläge je so leicht aussehen lassen, niemand schwingt den Schläger eleganter, keiner bewegt sich geschmeidiger.
Deutsch-englische Ausgabe des Essays
Der im Jahr 2008 verstorbene Schriftsteller David Foster Wallace, der selbst kurz vor einer Laufbahn als Tennisspieler stand, hat das früh in Worte gefasst und Federer nach einem Interview im Jahr 2006 eine essayistische Huldigung gewidmet, die vor einem Jahr, im Winter der Karriere des 20-maligen Grand-Slam-Gewinners Federer, in einer zweisprachigen Ausgabe bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Wer Tennis mag oder Roger Federer oder gut geschriebene Sportgeschichten, liest dieses Buch mit großer Freude.
Federer ist ein klassischer sportlicher Held
Der Sport lebt seit jeher vom Heldenmythos – den Journalistinnen und Journalisten mit ihren Geschichten befeuern. Der Sportteil der „Süddeutschen Zeitung“ ist für seinen feuilletonistischen Ansatz bekannt, auch der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat immer wieder die Grenzen zwischen Sport- und Sportkulturberichterstattung ausgelotet.
Gut eignen sich zur Mythenbildung tragische Heldinnen wie die Schwimmerin Franziska van Almsick, die trotz ihrer Eleganz und Kraft nie Olympiasiegerin wurde, allzumenschliche Helden wie Jan Ullrich, der meist vergeblich gegen den besessenen Antihelden Lance Armstrong antrat und abseits der Straße in tiefe Gräben steuerte. Die für die Erhöhung der gesellschaftlichen Bedeutung des Sports besten Helden aber sind Athletinnen und Athleten, die ihrer Sportart eine bis dahin unbekannte Ästhetik verleihen. Die Turnerin Nadia Comăneci wird trotz einer mit weit mehr Medaillen dekorierten Simone Biles für viele Fans auf ewig die größte Sportlerin ihres Fachs bleiben, weil sie mit Grandezza über Boden und Schwebebalken tanzte – so einzigartig, wie der kleine, leicht untersetzte Diego Maradona mit dem Ball tanzte.
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Triumph gegen Gewalt und Aggressivität
Für den Tennissport gebührt der Platz des unerreichten Genies Roger Federer. Novak Djokovic, der im vergangenen Jahr erst im Finale der US Open daran scheiterte, den Grand Slam und damit die vier größten Turniere binnen eines Jahres zu gewinnen, steht für ein groteskes Maß an Perfektion. Rafael Nadal hat das Spiel athletisch in neue Sphären getrieben. Ein Genie, stellte Foster Wallace schon vor 15 Jahren fest, ist allein Federer, der wieder und wieder gezeigt hat, wie sich „Aggressivität und rohe Gewalt von Schönheit in die Knie zwingen lässt“. Vergleichbar – vielleicht – nur mit dem tänzelnden Muhammad Ali, der seinen Gegnern selten an Kraft, immer aber an Geist und Kreativität überlegen war.
Federer verfügte nie über Nadals Muskelberge, er hat das Spiel nie wie Djokovic als Computerprogramm betrachtet. Zu seinem immensen Schlagrepertoire gesellen sich „seine Intelligenz, seine magische Voraussicht, sein Ballgefühl, seine Fähigkeit, Gegner zu durchschauen und zu manipulieren, Spin und Tempo zu variieren, zu täuschen und zu tarnen, taktischer Weitblick, peripheres Sehen und kinästhetische Fähigkeiten“ schreibt Foster Wallace.
Gegen Nadal oder die riesenhaften neuen Tennisstars wie Alexander Zverev oder Daniil Medvedev wirkt Federer wie ein Hänfling. Diesen superfitten, seit früher Kindheit gedrillten Großtalenten ist nur mit einer seltenen Mischung aus Ballgefühl, Körperbeherrschung, Reflexen, Konzentrationsfähigkeit und Technik beizukommen, zu der sich eine gleichermaßen stoische wie gewitzte Spielernatur gesellen sollte. All das hat Federer verkörpert. Bis er jetzt, mit 41 Jahren, nach einer langwierigen Verletzung spürte: Nein, all das wird nicht mehr reichen.
Er spielt so, wie viele gern leben würden
Genie, das bedeutet, so zu spielen, wie die Fans gern leben würden. Sportliche Helden sind mit jeder ihrer Bewegungen Projektionsfiguren. Federers Bewegungen und Schläge sehen leicht aus und locker, fast schwerelos. Sie sind schwer vorhersehbar und variabel. Fast immer strahlte dieser Spieler Ruhe und Zuversicht aus, Vertrauen in seinen Körper und seine Intuition. Fehler nahm er gelassen, nach (seltenen) Niederlagen gratulierte er dem Sieger aufrichtig. Der frühere Weltranglistenerste war auch jenseits des Sportplatzes ein Vorbild. Ausflüchte für eine Niederlage waren ihm fremd.
Anders als Djokovic oder der manisch ehrgeizige Grieche Stefanos Tsitsipas, die sich öffentlich kritisch übers Impfen gegen Corona ausließen, betonte Federer seine Sorge und die Wichtigkeit, andere zu schützen. Hätte er nicht die Meinung der Wissenschaft zur Pandemie teilen, hätte er geschwiegen.
Geriet er auf dem Platz in schwierige Situationen, befreite er sich am liebsten mit Kunstschlägen wie dem rückwärts durch die Beine geschlagenen Tweener, den er besser beherrschte als jeder andere. Über einen gelungenen Schlag aus der Defensive freute er sich weit mehr als über ein Ass oder eine knallharte Vorhand.
Sein Spiel war jahrelang ein schöner Fluss
Öfter als fast allen anderen gelang es Roger Federer, im Spiel aufzugehen, ganz bei sich zu sein. Tennisspieler sprechen davon, „im Tunnel“ zu sein, Ausdauersportler vom „Flow“ (Fließen). Federers Spiel war jahrelang ein einziger Fluss, dem man zuschaute und staunte über seine Schönheit, Natürlichkeit, Beständigkeit.
Neben dem Platz gab der „Maestro“, wie Fans ihn nennen, sich bodenständig, zurückhaltend, die Bedeutung des Sports relativierend – im Wissen, mit dem Sport einer der reichsten Menschen seines reichen Landes geworden zu sein und gesellschaftlich äußerst einflussreich. „Gentleman“ wird Federer deswegen genannt - und lächelte über diese Zuschreibung gelassen.
Nun ist der Held in die Jahre gekommen. Im August wurde er 41, sein Körper, der von großen Verletzungen lange verschont blieb, zeigt deutliche Abnutzungserscheinungen. Im Sommer 2021 verlor er in Wimbledon, dem Turnier, das er achtmal gewann, im Viertelfinale gegen den sehr guten Profi Hubert Hurkacz und war so chancenlos wie selten zuvor. Im Jahr darauf trat Ferderer nicht an. Er wisse, dass es schwer sei, nochmal auf die Tennistour zurückzukehren und erfolgreich zu sein. Er bleibe zuversichtlich, egal, was das Leben mit ihm vorhabe, sagte er vor einem Jahr.
Ähnlich wie bei Steffi Graf, die ohne Aufsehen zurücktrat und fortan ihr Privatleben genoss, konnte man sich bei Roger Federer schon da einen leisen Rückzug aus dem Tennissport vorstellen. Es war klar, dass er sich kein Jahr mehr antun würde, in dem er sich reihenweise von superfitten Riesen schlagen ließe, die ihm an Talent weit unterlegen sind. Jetzt hat er es entschieden: Nach einem Showauftritt beim Laver-Cup an der Seite seiner ewigen Rivalen Djokovic und Nadal tritt Roger Federer ab.
Seinen Mythos als größter Held seines Sports wird das weiter befeuern. Ganz unabhängig davon, ob eines Tages Djokovic oder Nadal mehr Grand-Slam-Turniere gewonnen haben werden als er.
Sein Mythos wird wachsen
David Foster Wallace, ein Genie der schreibenden Zunft, hat schon im Frühsommer von Federers Karriere gewusst, dass hier ein Spieler spielt, der Tennis zur Kunst macht. Dass diese Kunst stärker sein kann als jede Gewalt. Und es eben das Schönste ist, wenn Kunst über Gewalt triumphiert. Federer selbst glaubt, dass die Gewalt – in Form von sehr großen, sehr athletischen Spielern – im Herrentennis bald dominieren wird. Was seinen Heldenmythos noch vergrößern wird.
David Foster Wallace: Roger Federer, Eine Huldigung. Zweisprachige Ausgabe, Kiwi, 2021