Lehrerpräsident Meidinger„Die Politik macht denselben Fehler wie im letzten Sommer"

Lesezeit 5 Minuten
Schulcheck-Header-Meidinger

Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, fordert, die Politik müsse alles dafür tun, dass auch nach den Sommerferien Präsenzunterricht möglich ist.

  • Eine Studie der Uni Frankfurt hat dem digitalen Distanzunterricht im Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt: Es seien „enorme Leistungsdefizite entstanden“, schreiben die Autorinnen und Autoren.
  • Der Unterricht aus der Ferne sei damals so effektiv gewesen wie Sommerferien – nämlich gar nicht, heißt es in der Studie.
  • Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, kritisiert im Interview die Kernaussage der Studie, spricht über das Versagen der Schulpolitik und äußert Wünsche für die Bundestagswahl.

Herr Meidinger, war der Distanzunterricht während der Schulschließungen tatsächlich nutzlos, so ineffektiv wie Sommerferien? Heinz-Peter Meidinger: Das war eine sehr plakative und pointierte Aussage dieser international ausgerichteten Metastudie. Aus Deutschland sind drei Studien dabei, in denen Deutschland allerdings gar nicht so schlecht abschneidet. Wie gut wir wirklich aufgestellt waren, wissen wir nicht genau, da gibt es noch keine umfassende Lernstandserhebung. Für mich ist die Botschaft der Studie eher: Wir haben eine bestimmte Schülergruppe zumindest im Frühjahr 2020 nicht erreicht.

Die Studie spricht von Kompetenzeinbußen insbesondere bei Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Elternhäusern.

Es ist in der Tat so, dass das Distanzlernen eine gewisse Eigenständigkeit erfordert. Es ist hilfreich, wenn Eltern dabei unterstützen können. Wenn Eltern nicht verfügbar sind, Kinder von Haus aus Sprachprobleme und andere Handicaps mitbringen und daraus Lernschwierigkeiten entstehen, brauchen Schülerinnen und Schüler viel eher den direkten Kontakt in der Schule. Kinder, die sozial benachteiligt sind, wurden durch das Distanzlernen abgehängt. Dadurch ist die Lücke in der Bildungsgerechtigkeit, der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg, verstärkt worden.

Zur Person

Heinz-Peter Meidinger, Jahrgang 1954, ist seit 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbands, der Dachorganisation von 165 000 Lehrerinnen und Lehrern, die in Verbänden organisiert sind. Vorher war er 14 Jahre lang Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbands. Bis Juli 2020 war Meidinger Schulleiter des Robert-Koch-Gymnasiums im bayerischen Deggendorf.

Was kann getan werden, um in einer vergleichbaren Situation diese Kinder nicht wieder zu verlieren?

Heinz-Peter Meidinger

Heinz-Peter Meidinger

Das Handlungsinstrumentarium ist relativ begrenzt. In diesen Familien gab es oft keine tastaturfähigen Computer, wie sie für Fernunterrichtig nötig sind. Das 500-Millionen-Euro-Programm der Bundesregierung für Leihgeräte, die Schulleitungen an Kinder verteilen konnten, war nicht ausreichend, hat aber eine deutliche Verbesserung gebracht. Wichtiger ist aber: Je mehr Präsenzunterricht möglich ist, desto weniger werden diese Kinder abgehängt. Wir fordern daher von der Politik, alles zu tun, um Präsenzunterricht nach den Sommerferien zu ermöglichen.

Haben Sie das Gefühl, die Politik tut alles dafür?

Nein. Sie macht fast genau denselben Fehler, den sie im letzten Sommer gemacht hat. Damals hatten wir auch sehr niedrige Inzidenzen, es hieß, die Pandemie ist beendet. Es wurde zwar mit vollständigem Präsenzunterricht gestartet, aber sonst wurden die Hände in den Schoß gelegt. Es wurden weder Raumluftfilteranlagen beschafft noch Vorkehrungen für regelmäßige Testungen getroffen. Da hätte man viel schneller handeln können. Das gleiche gilt für die Digitalisierung der Schulen. Nur wenige Schulen wurden in den letzten Sommerferien zusätzlich mit schnellem Internet ausgestattet. Ich habe das Gefühl, das wiederholt sich jetzt. Es wird so getan, als sei die Pandemie vorbei. Aber jetzt kommt die ansteckende Delta-Variante und die Kinder sind weiter zu 90 Prozent ungeimpft.

Was fordern Sie?

Das eine sind Raumluftfilteranlagen, die im Idealfall sogar dazu führen könnten, auf eine Maskenpflicht zu verzichten, wenn sie flächendeckend eingesetzt werden. Das Förderprogramm der Bundesregierung für stationäre Filteranlagen ist beschränkt auf Kinder unter zwölf Jahren, die weiterführenden Schulen, die zwei Drittel aller Schulen ausmachen, kommen überhaupt nicht in den Genuss. Das ist sehr traurig. Gleichzeitig muss weiter stark in die Digitalisierung investiert werden, um auf eine eventuell doch noch drohende Phase des Wechsel- und Distanzunterrichts vorbereitet zu sein. Da geschieht zu wenig, obwohl Digitalpaktmittel verfügbar sind. Dabei könnte es eine heftige vierte Welle auch unter Kindern und Jugendlichen geben, die ja wohl auch zu mehr schwereren Krankheitsverläufen führt.

Welche Rolle schreiben Sie dabei den Lehrerinnen und Lehrern zu, bei einer Rückkehr zum Hybridunterricht das Bestmögliche für alle Kinder rauszuholen?

Die meisten Lehrkräfte hatten im Frühjahr 2020 keine Erfahrung mit Distanzlernen, geschweige denn mit Videokonferenzen. Die Politik hat zu Beginn der Pandemie in einigen Bundesländern kommuniziert, dass das nur vorübergehend ist und im Fernunterricht nur Stoff wiederholt werden soll. Das war eine schlimme Zeit, mit viel Chaos. Inzwischen hat sich aber viel getan, die Lernplattformen funktionieren besser. Auch die Lehrerzimmer haben einen Digitalisierungsschub erlebt.

Wie bleibend sind die Veränderungen, wenn die Pandemie irgendwann tatsächlich vorbei ist?

Ich bin überzeugt, dass die Erfahrungen im Umgang mit digitalen Tools auch für die Zukunft prägend sein werden. Wir haben zwar gesehen, was fehlt, wenn Schule nur auf Distanz stattfindet, aber wir haben auch gesehen, welche Möglichkeiten die digitale Vernetzung im Schulbereich bietet. In der Oberstufe ist sogar denkbar, dass ein paar Wochenstunden auch künftig digital in Distanz durchgeführt werden. Das wird zur Zukunft von Schule gehören. Digital können Expertinnen und Experten wunderbar von außerhalb in den Unterricht integriert werden. Auch Projektunterricht und die Vernetzung untereinander sind auf diesem Weg gut möglich. Es gibt aber weiterhin einen großen Fortbildungsbedarf bei Lehrerinnen und Lehrern.

Gibt es genügend Angebote?

Der Digitalisierungsschub während Corona kam nicht von der staatlichen Lehrerfortbildung, die Monate gebraucht hat, um sich darauf einzustellen. Der Schub kam aus den Lehrerzimmern von Kolleginnen und Kollegen, die schon Erfahrung hatten mit Lernvideos, Plattformen und Konferenzsystemen. Wir brauchen künftig mehr die Best-Practice-Formate, die bedarfsorientiert allen Schulen angeboten werden. Sie sind oft besser und praxisorientierter als das, was in staatlichen Lehrerfortbildungsakademien bisher geplant wird.

Welche Wünsche haben Sie für Lehrerinnen und Lehrer an die Parteien vor der Bundestagswahl?

Der Bund muss schnell einen Digitalpakt 2 auflegen. Die Parteien sollten sich dazu schon vor der Wahl erklären. Die Mittel aus dem ersten Paket sind noch nicht abgerufen, aber es geht um eine Langfristperspektive für die digitale Ausstattung.

Das könnte Sie auch interessieren:

Und man sollte endlich auch das Bildungssystem krisenfest machen. Bei Corona hat der Krisenmodus überhaupt nicht funktioniert. Es gibt ständig unterschiedliche Regelungen in den Ländern, bis heute reagiert die Kultusministerkonferenz nur sehr schwerfällig, teilweise werden die Bildungsressorts von ihren eigenen Ministerpräsidenten im Stich gelassen. Ich erwarte in Zukunft ein schnelleres und klareres Handeln.

KStA abonnieren