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Einordnung zum Kölner Muezzin-RufDas Christentum hat keine Sonderrechte

Lesezeit 5 Minuten

Die Kölner Ditib-Zentralmoschee

Köln – Hat eine islamische Schülerin ein Anrecht darauf, vom Sportunterricht befreit zu werden? Muss Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften das Schächten von Tieren erlaubt werden? Kann der Turbanträger beim Militär von der Helmpflicht befreit werden? Es war der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm, der im Jahre 2002 in der FAZ diese Fragen in einem eindringlichen Aufsatz aufwarf – einem Aufsatz, in dem es um die kulturellen Konflikte zwischen Zugewanderten und Einheimischen ging. Und um die Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen und sie zu bewältigen.

Grimm stellte auch eine Frage, die angesichts der laufenden Diskussion über die stadtkölnische (im Rahmen eines zunächst befristeten Modellprojekts erteilte) Erlaubnis des Muezzin-Rufes von hiesigen Moscheen schlagende Aktualität gewinnt: Muss die „christliche Dorfbevölkerung den lautsprecher-verstärkten Ruf des Muezzin ertragen“?

Heute geht es zwar nicht ums Dorf, sondern vor allem um die Einwohner des möglicherweise von den Minaretten der Zentralmoschee beschallten Multikulti-Stadtteils Ehrenfeld, aber das von Grimm beschriebene Problem ist im Prinzip auch nach fast 20 Jahren das nämliche.

Es geht in der Kölner Debatte um die Reichweite der Toleranz

Es geht dabei um die Reichweite von Toleranz, aber auch um die kollektive Verarbeitung von Anerkennungskämpfen im demokratischen Rechtsstaat, die schon lange Gegenstand einer intensiven sozialphilosophischen Debatte sind. Erwähnt sei an dieser Stelle nur das grundlegende Buch von Axel Honneth „Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte“ von 1992.

Wie ist im Licht dieser Diskussion die Kölner Erlaubnis für den Muezzin-Ruf zu beurteilen? Was umgekehrt heißt: Wie sind die Rechtfertigungen einzuschätzen, die für eine potenzielle Nicht-Erlaubnis und damit ein De-facto-Verbot vorgebracht werden? Denn daran, dass ein solches rechtfertigungsbedürftig ist, sollte kein Zweifel bestehen.

Die Genehmigung des Muezzin-Rufes durch die Oberbürgermeisterin wird unter Anführung verschiedener Gründe kritisiert – die strikt auseinandergehalten werden müssen. Michael Bertrams, früherer Präsident des NRW-Verfassungsgerichtshofs, hat kürzlich in dieser Zeitung die Erlaubnis mit juristischen Argumenten getadelt, die indes sehr wohl auch einen philosophischen Aspekt haben.

Die die Zentralmoschee tragende Türkisch-Islamische Union Ditib ist Bertrams zufolge ein „verlängerter Arm der staatlichen türkischen Religionsbehörde Diyanet, die dem türkischen Präsidenten Erdogan treu ergeben ist“.

Solchermaßen wird – so lässt sich Bertrams’ Argumentationslinie ausziehen – auch der Kölner Muezzin-Ruf zum Propagandainstrument eines Regimes, dessen Form und Funktionsweise mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wie sie das Grundgesetz normativ vorsieht, nicht vereinbar ist.

In philosophischer Terminologie: Interkulturelle Akzeptanz, Anerkennung und Toleranz können nur auf der Grundlage strikter Allgemeinheit und Reziprozität erfolgen und gedeihen. Toleranz kann legitimerweise nur einfordern, wer sie selbst zu praktizieren bereit ist. Keine Toleranz also für Intoleranz! In der Tat lässt die Ditib-Dyanet-Erdogan-Connection es auch als zweifelhaft erscheinen, dass ein einschlägig ausgerichteter politischer Islam bereit ist, in muslimischen Ländern christlichen Kirchen jene Rechte zu gewähren, die er selbst in westlichen Ländern für sich selbstverständlich beansprucht.

Der – in dieser drastischen Unverblümtheit allerdings selten bis gar nicht formulierte – Standpunkt: „Ich fordere von dir im Namen deiner Kultur für mich Rechte, die ich dir im Namen der meinigen vorenthalte“ ist indes offenkundig inakzeptabel, weil er besagtes Prinzip der Reziprozität fundamental verletzt. Insofern ist Bertrams’ Argumentation einleuchtend.

Nun gibt es allerdings Vorbehalte gegen den Muezzin-Ruf von der nahen Moschee, die ganz unabhängig davon bestehen, ob der Moscheeverein eine nichtfundamentalistisch-liberale – sprich: mit unserer Verfassungsordnung kompatible – Ausrichtung hat oder nicht.

Es gibt viele Menschen, die (das zeigt auch die aktuelle Kölner Diskussion) generell durch akustische Bekundungen religiöser Überzeugungen nicht belästigt werden wollen – handle es sich nun um den Muezzin-Ruf oder das „Gebimmel“ von Kirchenglocken.

Man kann sich heute nicht mehr auf eine christliche Leitkultur berufen

Auch dieser Einwand ist zunächst einmal ernstzunehmen. Im säkularen Staat ist Religion Privatsache, die sich aus dem öffentlichen Raum herauszuhalten hat. Indes stößt eine strikte Trennung der Sphären auf unabsehbare Schwierigkeiten: Wenn man Glocken und Muezzin-Ruf verbietet, muss man konsequenterweise auch optisch wirksame Zeichen religiöser Zugehörigkeit untersagen. Was ist mit dem Kopftuch (altes Problem!), was mit der Kippa, was mit dem Kreuz der Ordensschwester? Ein Christ oder Jude oder Muslim bleibt dies auch, wenn er aus seiner Wohnung auf die Straße geht.

Es empfehlen sich in diesem Zusammenhang pragmatische, sich an Kriterien wie mögliche Ruhestörung etc. orientierende Lösungen, die im Zweifelsfall auf gerichtlichem Weg herbeigeführt werden können. Bedeuten Glocken und Muezzin-Rufe einen derart schwerwiegenden, das heißt unzumutbaren Eingriff in die Lebenswelt nicht-beteiligter Bürger, dass sie untersagt werden müssen? Es geht hier um Fragen der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit.

In der Regel dürften sie so beantwortet werden, dass die Folge eine Limitierung, aber nicht ein rigoroses Verbot ist. Eindeutig nicht rechtfertigungsfähig hingegen ist eine Begründung, die den Muezzin-Ruf mit dem Hinweis auf die christliche Signatur des Abendlandes oder eine wie auch immer geartete deutsche „Leitkultur“ untersagen wollte. Hier würden Genese und Geltung in einer Weise verwechselt, die ihrerseits im Licht der Verfassung, die konfessionell neutral ist, höchst problematisch wäre.

Niemand stellt die Bedeutung der jüdisch-christlichen Tradition für die Entstehung der abendländischen Kultur und Zivilisation ernsthaft infrage. Aber die Zeiten ändern sich. In einer Periode, da die beiden großen christlichen Konfessionen dramatisch an Mitgliedern verlieren und Anders- und Nichtgläubige – religiös „Unmusikalische“ nennt sie Max Weber – in den westlichen Ländern zusehends die Bevölkerungsmehrheiten stellen, wird die Rede von der christlich-jüdischen Leitkultur schal und unzeitgemäß.

Die christliche Lebenspraxis wird zu einem partikularen Ethos, das keinerlei Anspruch mehr erheben kann, eine allgemein verbindliche Gesellschaftsmoral vorzugeben.

Umgekehrt müssen sich auch Menschen als vollwertige, das heißt als in ihren privaten Gewohnheiten und religiösen Praktiken nicht diskriminierte Bürger dieses Landes und seiner Rechtsordnung verstehen können, die mit dem Christentum nichts (mehr) am Hut haben. Das Grundgesetz liefert dafür den Rahmen – wenn etwas die deutsche „Leitkultur“ repräsentiert, dann ist es die Verfassung.

Kurzum: Das Experiment mit den Kölner Muezzin-Rufen kann mit Gründen kritisiert und abgelehnt werden. Aber die Gegner sollten sich schon die richtigen Argumente aussuchen.