Zwei Jahre nach der FlutNachruf auf Ernst Meyer – den Kümmerer von Nettersheim

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Ernst Meyer war bei der Freiwilligen Feuerwehr in Nettersheim.

Ernst Meyer war bei der Freiwilligen Feuerwehr in Nettersheim.

Nettersheim. Ihr Vater habe mehr zugehört als selbst geredet, sagt Diana Ritter. „Alle haben meinen Papa als einen sehr ruhigen Menschen kennengelernt. Er war kein Mann vieler Worte, aber man braucht viele Worte, um ihn zu beschreiben.“

Wir sprechen über Ernst Meyer aus der Eifelgemeinde Nettersheim, der in der Flutnacht zum 15. Juli, als die sonst so beschauliche Urft im Ortskern sich innerhalb weniger Stunden in einen reißenden Strom verwandelte, im Alter von 68 Jahren sein Leben verlor. Weil er helfen wollte. Wie es seine Art war. Ohne viel Aufhebens zu machen.

Mehr als 50 Jahre engagiert er sich bei der Freiwilligen Feuerwehr in Nettersheim, zieht die gesamte Laufbahn durch, fährt unzählige Einsätze. Er bildet Maschinisten aus, ist über Jahrzehnte Atemschutzgeräteträger, besteht jede der vielen Untersuchungen. „Mit 63 musste er aufhören. Er hätte gern noch weitergemacht“, sagt seine Tochter. Auf seine ganz eigene zurückhaltende Art gelingt ihm das auch.

Man konnte sich immer auf Ernst Meyer verlassen

Meyer wird Mitglied der Alters- und Ehrenabteilung, geht weiter regelmäßig ins Feuerwehrgerätehaus und hält die Maschinen instand. Weil er das aus dem Effeff beherrscht. Schließlich ist er gelernter Landmaschinenmechaniker, hat sich in den zwölf Jahren als Berufssoldat bei der Bundeswehr als Hubschraubermechaniker bewährt, später seinen Industriemeister gemacht und bei einem Autozuliefererbetrieb in Bad Münstereifel Jahrzehnte gearbeitet. Bis zu seiner Rente. Man konnte sich auf Ernst Meyer verlassen. Und er ist ein Eifeler durch und durch. Das sagen alle, die ihn gekannt haben.

Ein Bild ist seiner Tochter besonders in Erinnerung geblieben. „Ich sehe ihn vor allem an Sankt Martin vor mir, wie er das große Martinsfeuer und den Martinszug gemeinsam mit den Kameraden bewachte. Und wie er danach auf dem Martinsmarkt mit uns Bonnezupp und Hefeplätz gegessen, einen Glühwein getrunken und dabei nach Rauch gerochen hat.“

Es mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, dass ein so ruhiger, zurückhaltender Charakter sich ausgerechnet im Karneval engagiert. Doch weil es das Vereinsleben ist, das eine Dorfgemeinschaft wie in Nettersheim zusammenhält, macht Ernst Meyer auch bei der KG Löstige Höndche mit. „Meine Mutter war eher so ein Jeck“, sagt Diana Ritter. Doch auch Ernst findet im Fastelovend seinen Platz. Über Jahre kümmert er sich als „Wau Wau Radau“ darum, dass die Sitzungen reibungslos ablaufen.

„Neddeschem wau wau!“ Das rufen die Jecken von Nettersheim in der fünften Jahreszeit. Und Ernst? Ernst baut im Dorfsaal auf und wieder ab, platziert die Mikros, fegt Konfetti von der Bühne. Ernst steht hinter der Kamera und filmt, Ernst ist bei den Karnevalszügen als Zugleiter oder Wagenengel aktiv. Und ist durchaus für eine Überraschung gut. „Im Jahr 2003 hat er zusammen mit Mama das Nettersheimer Prinzenpaar gestellt. Da sind die meisten aus allen Wolken gefallen.“

Meyer war kein Mann der großen Worte

Selbst Diana und ihre ältere Schwester Yvonne wissen von nichts. „Wir waren nur erleichtert, dass er in langer Hose und nicht mit einer Strumpf- oder Pumphose aufgetreten.“ Das hätte ihr Papa doch etwas zu übertrieben gefunden. Man muss wohl nicht erwähnen, dass Ernst Meyer kein Prinz der großen Worte war. „Er hat nur das Nötigste geredet. Aber das hat er super gemacht.“

Ernst Meyer zählt zu den Menschen, denen augenscheinlich nichts zu viel ist. Er arbeitet im Dorfverschönerungsverein, übernimmt nach seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben ehrenamtlich die Hausmeistertätigkeiten im Dorfsaal und widmet sich seiner zweiten großen Leidenschaft, dem Segeln.

Ernst Meyer bei einem Umzug durch Nettersheim mit der Freiwilligen Feuerwehr.

Ernst Meyer bei einem Umzug durch Nettersheim mit der Freiwilligen Feuerwehr.

Über Umwege ist er dazu gekommen. „In den Ferien ist er mit Mama und uns Kindern zuerst regelmäßig in Holland zelten gewesen. Irgendwann hat er ein Motorboot ausgeliehen und dabei immer ganz fasziniert Segelschiffe beobachtet und schließlich den Sportbootführerschein Binnen und See unter Segel und Motor gemacht. Seitdem gab es kein Halten mehr und er hat unzählige Segeltörns mit uns als Familie, aber auch mit Freunden und den Feuerwehrkameraden auf dem Ijsselmeer auf Plattböden gemacht. Irgendwann hat er sich den Traum von einem eigenen Segelschiff erfüllt und seither mit seiner geliebten Artemis auf dem Rursee so manche Runde gedreht.“

Meyer bringt Menschen zusammen

Meyer bringt Menschen zusammen. Ohne ihn wäre die Dorffeuerwehr wohl nie zum Segeln gekommen. Und es gibt auch die Tage, an denen er Lust hat, seinen Töchtern Geschichten zu erzählen. Wie sie bei einem Manöver im Feld tagelang eine Wildschweinrotte beobachtet und er schließlich eine Sau erlegte, weil das Essen in der Feldküche allen auf die Geschmacksnerven ging. Oder bei den Heeresfliegern die Panzerfahrer zum Hubschrauberflug animierte. Mit der Vorgabe, dass jeder, dem dabei schlecht wird, eine Kiste Bier spendieren muss. Dabei soll eine Menge zusammengekommen sein.

Seine Tochter Diana hat lange über die Absurdität des Schicksals nachgedacht. „Mein Vater ist früher in brennende Häuser reingerannt und hat mit Löschwasser Leben gerettet. Er hat das Wasser geliebt. Das Segeln, das Meer, die Wellen, den Wind. Und er war immer auf Sicherheit bedacht. Und dann passiert so etwas.“

Weil er seiner Tochter Yvonne und deren Freund Andreas helfen wollte, dessen Lokal „Freistaat Eifel“ in der Nacht zum 15. Juli in den Fluten versank. Gemeinsam hätten sie doch nur versucht, sein Hab und Gut in Sicherheit zu bringen, sagt Andreas. „Wir haben die Gefahr völlig unterschätzt. Es gab keinen Alarm, keine Sirene, nichts. Es war niemandem klar, was hier gerade passiert. Auch der Feuerwehr nicht.“

Den Versuch, sich in Sicherheit zu bringen, bezahlt Ernst Meyer mit seinem Leben. Seine Tochter und der Freund können sich gerade noch retten.

Als Ernst Meyer zu Grabe getragen wird, steht die Feuerwehr Spalier, die Mitglieder der „Löstigen Höndche“ kommen in ihren Vereinsfarben, der Segelclub hat den Kranz mit dem orangefarbenen Vereinswappen geschmückt. Trotz Corona gehen unzählige Menschen in einer Art privater Prozession quer durch Nettersheim von der Kirche bis zum Friedhof. „Ich bin mir sicher, das hätte Papa gefallen“, sagt Diana. „Auch wenn er sicher gesagt hätte: ‚Ach, dat is doch all nit nürdisch.‘“

Der Text ist zuerst im September 2021 erschienen. Die Redaktion erinnert zum zweiten Jahrestag der Flut an die Opfer.

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