Das Euskirchener Stadtmuseum veranstaltete ein Zeitzeugengespräch. Thema war die Nachkriegszeit in der stark zerstörten Stadt.
ZeitzeugengesprächEuskirchener erinnern sich an ihre Kindheit in Trümmern

In der Ausstellung im Stadtmuseum zu sehen: ein Holzkarren aus den 1940er-Jahren, gebaut aus Kinderwagenrädern und einer Kartoffelkiste. Er war ein wichtiges Transportmittel in der Wiederaufbauzeit, auch in Euskirchen.
Copyright: Stefan Lieser
„Die fünfziger Jahre – Euskirchen im Wiederaufbau“ lautete der Titel des dritten Zeitzeugengesprächs im Stadtmuseum. Es erzählten drei Euskirchener, die die ersten Nachkriegsjahre als Kinder und Jugendliche erlebt haben. Die Veranstaltung gehörte zum Begleitprogramm der Ausstellung „Neubeginn im Frieden. Euskirchen 1945-1961“.
War er mit einem solchen Handkarren, wie er derzeit im Stadtmuseum zu sehen ist, aus der Evakuierung mit seiner Mutter zur Verwandtschaft ins sauerländische Schmallenberg zurück ins kriegszerstörte Euskirchen gekommen? Robert Kuhlmann, Jahrgang 1941, kann es sich vorstellen.
Er war ja ein Kind, als er das zu 75 Prozent kriegszerstörte Euskirchen wiedersah. Genauer das, was davon übrig geblieben war: eine Stadt in Trümmern. Man habe damals nach einer ersten Unterkunft in der heutigen Rheinischen Schule für Hörgeschädigte – „die nannte man damals Taubstummenanstalt“ – an der Kapellenstraße 10 gewohnt. „Das Dach war aus Blech, und im Dachstuhl war ein Taubenschlag.“ Viel mehr musste Kuhlmann nicht sagen. Geraune, Gelächter ging durchs Publikum. Gleichaltrige, die wie er die Nachkriegszeit bis zum Beginn der 1960er-Jahre erlebt haben, wussten: Es muss ein Höllenlärm gewesen sein. Bei Regen sowieso.
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50 Besucherinnen und Besucher waren ins Euskirchener Stadtmuseum gekommen
„Die Tauben gehörten Kerzmanns Jupp, der der erste Taubenzüchter in Euskirchen war. Mit seinen Tauben nahm er sogar an der Olympiade in Spanien teil“, kam es spontan aus den Reihen der Zuschauer. Solche Dialoge rund ums Anekdotische entwickelten sich während der gesamten Veranstaltung. Drei Zeitzeugen berichteten, um die 20 der rund 50 Besucher hörten zu und kommentierten gerne. Sie hatten ja Ähnliches erlebt. Für Museumspädagogin Dr. Heike Lützenkirchen, Leiterin des Stadtmuseums, war das eine fast schon idealtypische Situation: Erzähltes begleitet das in der Ausstellung Dokumentierte und wird durch das Publikum auf eine weitere Ebene gehoben.
Dass man in der Not der Nachkriegsjahre, in der man sich zu helfen wissen musste, die Tauben auch zum Verzehr gezüchtet habe wie vor allem die im Verschlag gehaltenen Kaninchen, darauf wiesen aus der Dreierrunde auch Helga Hartmann (Jahrgang 1943) und Klaus Gymnich (1936) hin. „Mein Schwiegervater hatte 80 Karnickel“, so Hartmann. Auch der Preisträger einer Leistungsschau sei schließlich in der Pfanne gelandet.

Drei Zeitzeugen im Gespräch mit Museumsleiterin Dr. Heike Lützenkirchen (v.l.): Robert Kuhlmann, Helga Hartmann und Klaus Gymnich.
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Es ging eben um die Meisterung des Alltags, in dem Mangel vorherrschte. Robert Kuhlmanns Mutter konnte besonders gut nähen, also war sie – so würde man es heute nennen – eine viel gefragte Dienstleisterin auch für die Bevölkerung der umliegenden Dörfer. Was sie nähte, sei von den Bauern mit Naturalien bezahlt worden, so Kuhlmann. Das war damals die wichtigste Währung neben – vor allen Dingen in den Großstädten – Zigaretten. Maggeln wurde die geduldete Schattenwirtschaft genannt.
Kuhlmann, Hartmann und Gymnich erinnerten sich auch an ihre Grundschulzeit im Nachkriegs-Euskirchen. Auf Fotos von ersten Schultagen stellten sie Übereinstimmungen fest: Man habe hohe und feste Schuhe getragen, so Klaus Gymnich. Der Schulweg zur West- oder Nordschule war weit, die Straßen und Wege noch lange nicht alle befestigt. Was die weiblichen i-Dötzchen trugen, sei von den Müttern genäht oder gestrickt worden, berichtete Helga Hartmann. In den Schultüten befanden sich Äpfel und selbst gebackene Plätzchen. Der Schulranzen war eine Kostbarkeit für damalige Verhältnisse und aus Leder gefertigt.
Im Weihnachtsspiel mussten wir Rauschgoldengel sein, da kam das Haareschneiden nicht infrage.
Not macht erfinderisch, das habe auch für die Spiele der Kinder gegolten. Man hat Fußball gespielt, gekniggelt, Büdchen gebaut, Briefmarken gesammelt, so Robert Kuhlmann und Klaus Gymnich. Helga Hartmann war – wie alle Mädchen damals – Seilchenspringerin und trug lange Haare, zu Zöpfen gebunden. Das hatte Gründe: „Im Weihnachtsspiel mussten wir Rauschgoldengel sein, da kam das Haareschneiden nicht infrage.“
Die Kindheit in Trümmern, das sei, so Hartmann, eigentlich eine schöne Zeit gewesen. Kuhlmann und Gymnich nickten. „Es war schön, weil wir alle nichts hatten.“ Das hört man immer wieder, wenn man mit solchen Zeitzeugen spricht.
Im Alter von zwölf Jahren tat Helga Hartmann Verbotenes
Und dann kam, unvermeidlich natürlich, auch für das Trio die Zeit der Pubertät und ersten Liebe. Sie sei erst zwölf gewesen, so Helga Hartmann, als sie mit einer Freundin Verbotenes getan habe: die Lippen mit dem Stift gefärbt, um älter zu wirken, und rein ins Kino. Davon gab es in der Nachkriegszeit vier in Euskirchen. Gezeigt wurde „Heiße Ernte“, freigegeben ab 16. Die Täuschung flog auf – und Hartmann aus dem Kino.
Wo man sich eigentlich damals kennengelernt habe, wollte Heike Lützenkirchen vom Trio wissen. „Auf der Maikirmes zum Beispiel“, so Klaus Gymnich: „Wir sind nur noch auf die Raupe gegangen, da war dann Platz für alle Freiheiten.“ Das Publikum schmunzelte wissend.
Das Stadtfest 1952 anlässlich des 650. Jahrestages der Verleihung der Stadtrechte an Euskirchen wurde eine Woche lang vom 6. bis 14. September gefeiert. Lützenkirchen zeigte Ausschnitte eines damals erstellten Dokumentarfilms. Der Wiederaufbau war in vollem Gange, es war der geeignete Anlass. Festzug, Schul- und Sportfest, Auftritt eines Kinderchores aus allen Euskirchener Schulen, ein großer Festakt, die Aufführung einer von den Schülern einstudierten Kinderoper gehörten zum Programm. Das 1950 begonnene neue Stadtmodell war pünktlich fertiggestellt. Es ist heute im Museumsfoyer ausgestellt.
Selbst an Details erinnerten sich die Zeitzeugen und die Besucher der rund 100-minütigen, kurzweiligen Veranstaltung. Ein Thema des Erinnerns aber sei in der Nachkriegszeit und noch Jahre später wie unter einer dicken schwarzen Decke versteckt geblieben: Die Zeit des Nationalsozialismus, auch die des gerade überstandenen Zweiten Weltkriegs blieb in den Familien Tabu. Es wurde verschwiegen und verdrängt.

