Kinderarmut„Du wirst in der Hölle landen – du hast dein Leben verschwendet”

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Dennis wuchs in einer armen Familie auf. Heute ist er 26 Jahre alt und macht an einer Abendschule das Abitur nach. Seine "letzte Chance", seinem Leben eine positive Wendung zu geben, wie er selbst sagt.

  • Die Armut seiner Eltern verfolgt Dennis aus NRW auch mit 26 Jahren noch.
  • Dennis hat die Schule geschmissen, die Lehre abgebrochen, die Ehe ging in die Brüche. Jetzt ist er 26 Jahre alt und will sein Abi an der Abendschule nachholen. Seine „letzte Chance", wie er sagt.
  • Eine Langzeitstudie der AWO belegt: Dennis ist leider kein Einzelfall. Kinderarmut prägt – ein Leben lang.
  • Unser großes Dossier.

Es ist ein typischer Satz, der den Armutsforschern immer wieder begegnet: „Als ich klein war, hat man nicht gemerkt, dass kein Geld da war. Höchstens dass es bei uns nie  Urlaub gab. Meine Eltern waren sehr geschickt darin, das alles vor uns zu verbergen.“

Wir treffen Dennis (Name geändert), heute 26 Jahre alt,  in einem Café in einer ostwestfälischen Kleinstadt. Dennis ist eines von 893 Kindern aus 60 Kindertagesstätten der Arbeiterwohlfahrt, deren Leben und Zukunftschancen im Jahr 1999 zum ersten Mal  untersucht wurden.  Wissenschaftlerinnen des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) in Frankfurt wollten damals  wissen: Armut? Was ist das? Wie wird sie von Kindern in ihrem Alltag erlebt?

Ernüchternde Erkenntnisse

23 Jahre später werden  ihre Lebensgeschichten wie die von Dennis viel darüber verraten, welche Zusammenhänge und Wechselwirkungen es zwischen der Einkommensarmut von Familien und den Lebenslagen der Kinder an den kritischen Übergängen bis zum jungen Erwachsenenalter gibt. Eigentlich sollte es 1999 bei dieser einmaligen Befragung bleiben.  Doch es gelang  den Wissenschaftlern, einen Teil der sechs- und siebenjährigen Kinder von damals  über knapp 20 Jahre zu begleiten.  Ihre Erkenntnisse sind ernüchternd.

Es sind immerhin  noch 205 Kinder, die auf bis zu fünf entscheidenden Etappen  ihres Lebens den Forschenden des ISS Einblicke gewährt haben. Beim Vorschulalter und Übergang in die Grundschule, in der Mitte der Grundschulzeit, beim Wechsel auf die weiterführende Schule, am Ende der Sekundarstufe I und im Alter von 25 Jahren.

„Ich habe zu Hause nie Zuspruch erfahren"

Dennis wächst als fünftes und jüngstes Kind einer Spätaussiedler-Familie aus Russland auf. Er ist als  einziger in Deutschland geboren.  Da ist seine älteste Schwester schon 20. Ein Nachzügler, dem die Eltern schon früh zu verstehen geben, dass er eigentlich nicht gewollt ist.

Die Vater war  in der ehemaligen UdSSR als Berufssoldat in der Armee und  wird in Deutschland schon früh arbeitsunfähig. Er  hat über viele Jahre schwere Alkoholprobleme. Die Mutter, die in der Sowjetunion als Lehrerin arbeitete, schlägt sich als Hilfskraft in einem Altenheim durch. Dennis ist zunächst ein guter Schüler, kann den hohen Erwartungen seiner Eltern irgendwann aber nicht mehr gerecht werden. „Meine Leistungen waren nie gut genug. Ich habe zu Hause  niemals Zuspruch erfahren.“

Die Eltern gehören den Mennoniten an, einer evangelischen Freikirche. Die meisten ihrer Mitglieder sind in den 1990er Jahren wegen der Unterdrückung durch die kommunistischen Machthaber in der UdSSR  nach Deutschland gekommen.

Mit der Pubertät beginnen bei Dennis die Probleme. „Mein Vater hat es zwar irgendwann geschafft, vom Alkohol loszukommen, dafür wurde er mit seiner Religion aber immer fanatischer. Die Glaubensgemeinschaft der Mennoniten erwartet von ihren Anhängern eine völlige Konformität“, sagt Dennis. „Keiner darf auffallen. Du musst früh heiraten, früh Kinder bekommen. Meine Eltern hatten nur eine Motivation: Dass es ihren Kindern mal besser gehen soll. Ich bin mit diesem Erwartungsdruck irgendwann nicht mehr zurechtgekommen.“

Schule geschmissen, Ausbildung abgebrochen

Dennis zieht sich zurück, fälscht Unterschriften unter Klassenarbeiten, wenn die Noten mal schlechter ausfallen. Mit 14 Jahren sucht er sich die ersten Jobs, weil er spürt, dass er mit seinen Freunden nicht mithalten kann. An der Schule ist er der totale Außenseiter. Ein halbes Jahr vor dem Abitur verlässt er die Privatschule der Freikirche, arbeitet bei Burger King, beginnt dort eine Ausbildung in der Systemgastronomie. Auch die bricht er ab, fängt ein Informatik-Studium an. Das ist möglich, weil er die Fachhochschulreife mit Ach und Krach geschafft hat.

Er lernt seine erste Freundin kennen, heiratet mit 22. Da ist das erste Kind schon unterwegs. Die Beziehung hält nicht lange. Es folgen die Scheidung, ein heftiger Streit ums Sorgerecht, ein schmutziger Ehekrieg. Bis heute darf er seine Tochter nur alle zwei Wochen sehen. „Sie ist jetzt viereinhalb“, sagt er.

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Für seine Eltern werde er für alle Zeiten ein Versager bleiben. „Sie werfen mir das alles bis heute vor. Dass ich die Schule geschmissen habe, die Ausbildung abgebrochen. Du wirst in der Hölle landen. Du hast Dein Leben verschwendet. Du wirst eh nichts schaffen.“

„Meine Tochter soll es einmal besser haben“

Doch Dennis will die Kurve kriegen. Auf einem Weiterbildungskolleg in Paderborn wird er im Mai sein Abitur nachholen. Tagsüber Schule, abends und an den Wochenenden als Aushilfe bei McDonald’s jobben. Er sagt denselben Satz, der er von seinen Eltern immer wieder gehört hat: „Meine Tochter soll es einmal besser haben.“

Was ist Armut? Beim ISS in Frankfurt beschäftigt sich eine Forschergruppe unter der Leitung von Irina Volf seit Jahren mit dieser Frage. „Für uns hier am Institut ist Armut in erster Linie ein Ergebnis politischer Entscheidungen“, sagt sie. Man dürfe die Schuld  nicht auf die Menschen schieben, „auch wenn das intuitiv der erste Gedanke ist“. Armut sei mehr als der Mangel an Geld. Sie beraube Menschen ihrer materiellen Unabhängigkeit und damit auch der Fähigkeit, ihr Schicksal und das ihrer Kinder selbst in die Hand zu nehmen. Armut sei ein prägender Faktor sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft. „Wir sagen: Kinderarmut gibt es  nicht. Es gibt arme Familien. Die Kinder leben in armen Familien. Wir sprechen von armen Kindern, weil die Eltern arm sind. Das ist unser Verständnis der Armut.“

Die Wissenschaftlerinnen arbeiten mit dem Lebenslagen-Ansatz und versuchen dabei, die materielle, soziale, gesundheitliche und kulturelle Lage der jungen Menschen in Abhängigkeit von der Einkommensarmut zu beurteilen.  Deshalb lautet die Leitfrage der Studie von Beginn an: Was kommt unter Armutsbedingungen beim Kind an?

Dabei lässt sich Einkommensarmut  am leichtesten definieren. Als einkommensarm gilt, wer entweder staatliche Leistungen wie Hartz IV, Unterstützung als Asylbewerber, Kinderzuschlag oder Wohngeld bezieht oder weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Deutschen zur Verfügung hat.

Sind die Eltern in der Lage, bei den Hausaufgaben zu helfen?

Um die Lebenssituationen der Kinder zu bewerten, werden je nach Alter bis zu 100 Faktoren herangezogen. Bei der gesundheitlichen Lage wird zum Beispiel berücksichtigt, wie oft der Kinderarzt besucht wird, ob das Kind Sport treibt oder zum Zahnarzt geht. Zur kulturellen Lage zählen Hausaufgabenbetreuung, Bücherei- und Museumsbesuche oder schlicht die Frage, ob die Eltern in der Lage sind, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen.

Um die soziale Lage zu bewerten, stellen die Forscher Fragen wie: Hat das Kind Freunde? Wird es zu Geburtstagen eingeladen? Gibt es Kontakte zu Verwandten? Wird die Schule geschwänzt? Die materielle Lage wird nach der Grundversorgung mit Essen, Kleidung, Wohnung und materieller Teilhabe bewertet. Kann das Kind Freunde nach Hause zum Essen einladen? Wie oft werden kostenpflichtige Aktivitäten mit dem Kind unternommen? Bekommt das Kind regelmäßig Taschengeld?

Diese vier Kategorien sind für die Wissenschaftlerinnen die Basis, um den Kindern drei definierte Lebenslagen-Typen zuzuordnen: Wohlergehen, Benachteiligung, multiple Deprivation. Letzteres bedeutet, dass ein  Kind  in drei oder allen vier Kategorien auffällig ist und  gravierende Einschränkungen in fast allen Lebensbereichen erlebt.

Warum läuft Dennis' Leben aus dem Ruder?

Dennis zählt lange zur zweiten Gruppe. Benachteiligt, aber immerhin nicht mehrfach. Er ist in einer einkommensarmen Familie aufgewachsen, weil diese aufgrund ihrer Zuwanderungsgeschichte und den daraus folgenden schlechteren Chancen in Deutschland über wenig Geld verfügt. Das scheint aber auch alles zu sein. Warum rutscht Dennis weiter ab? Was läuft in seiner Entwicklung schief? Warum gelangt er an einen Punkt, von dem er heute sagt, dass alles aus dem Ruder gelaufen ist? Dass er für sich keine Perspektive mehr sieht.

Schon als Kind habe er sich immer schuldig gefühlt, weil er die hohen Erwartungen seiner Eltern nicht erfüllen konnte, sagt er. Und er ist bis heute der Überzeugung, dass er sich sein „verkorkstes Leben“ zu einem Teil selbst zuzuschreiben habe: „Wenn ich schon die Schule nicht gepackt habe, hätte ich wenigstens die Ausbildung durchziehen sollen.“

„Freunde sind rar gesät. Wirklich rar."

Heute weiß Dennis aber auch, dass in seinem Umfeld längst nicht alles optimal lief:  In der Familie fehlten Emotionalität und Wärme. „Zu meinem Vater habe ich bis heute keinen Bezug. Meine Mutter hat immer gearbeitet und Druck gemacht. Das hat sich nie geändert. Und dann kommt irgendwann  die Mitleidsschiene: »Was haben wir denn falsch gemacht?« Die Kommunikation zu Hause war  sehr  gestört. In der Schule wurde ich irgendwann gemobbt. Ich war onlinespielsüchtig. Das war die erste Gruppe, in der ich Zuwendung gefunden habe. Freunde sind rar gesät, wirklich rar gesät.“

Dennis sagt heute, dass der Schule über die reine Wissensvermittlung hinaus viel mehr Bedeutung beigemessen werden müsse. Sie sei eben mehr  als eine Bildungseinrichtung. „Ich fände es gut, wenn Kinder in Schulen mehr Ansprechpartner hätten. Sozialarbeiter zum Beispiel. Denen auffällt, wenn ein Kind sich verändert.“ Jetzt – am Weiterbildungskolleg mit 26 Jahren – erfahre er genau diese Unterstützung. Viel zu spät. Sein Lebenslauf sei  ein einziges Protokoll des Scheiterns:  Schule abgebrochen, Ausbildung abgebrochen, Studium geschmissen. 

Dennis fürchtet, dass es für ihn selbst mit einem nachgeholten Abitur schwierig sein wird, einen Ausbildungsplatz zu finden. „Ich möchte gerne Krankenpfleger lernen. Aber erklären Sie einem Arbeitgeber mal Ihre Motivation, wenn Sie so einen Lebenslauf vorweisen."

Ein gutes Drittel kann die Armut nicht abschütteln

Die Bilanz der Langzeitstudie fällt in vergleichbaren Fällen  nicht ganz so negativ aus. Auch wenn sie nicht repräsentativ sein könne, weil sie von Anfang an einen Schwerpunkt auf Kinder aus benachteiligten Wohnquartieren gelegt habe, lasse sich doch feststellen, dass es der Mehrzahl gelungen sei, der familiären Armut zu entkommen. Im Alter von 25 Jahren leben nur noch 36 Prozent der ehemaligen armen Sechsjährigen in ärmlichen Verhältnissen.

Und wie schätzen die heute von Armut betroffenen jungen Menschen ihre Lebensperspektiven  ein? Die Wissenschaftlerinnen haben festgestellt, dass jeder Vierte glaubt, ihm werde in den nächsten Jahren kein Aufstieg gelingen. Ein besserer Lebensstandard sei nicht zu erreichen. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass drei Viertel positiv in die Zukunft schauen und mit einer Verbesserung ihrer Lebenssituation rechnen. Die Langzeitstudie hat auch festgehalten, welche Kinder gute Chancen haben, sich von der Armut ihrer Eltern zu befreien. Das gelingt vor allem jenen, die nach der Berufsausbildung oder dem Studium schnell einen attraktiven Job finden.  Diejenigen jungen Menschen, die früh Familien  gründen oder sich lange in der Ausbildung befinden, haben  ein erhöhtes Armutsrisiko.

Ein Schlüssel: Bessere Vereinbarung von Familie und Beruf

Trotz aller Erfolge ist die Grundregel für die Wissenschaftlerinnen auch nach 20 Jahren dieselbe: Arme Kinder haben einkommensarme Eltern. „Das wird sich nur ändern, wenn der Staat bei der Sozial- und Steuerpolitik so umsteuert, dass sie Armut verhindert“, sagt Irina Volf.  Zusätzlich müsse auf kommunaler Ebene noch viel getan werden, um jungen Menschen zu helfen, Familie und Beruf besser zu vereinbaren. Und die Kommunen müssten finanziell so gut ausgestattet sein, dass sie Strukturen aufbauen können,  um Armutsfolgen bei Kindern und Jugendlichen abzumildern. „Wenn wir Kinderarmut bekämpfen wollen, müssen wir die Armutsursachen bei den Eltern konsequent angehen und Familien unterstützen“, sagt Irina Volf.

Deren Ausgangslage, das zeige die Langzeitstudie eindeutig, sei in allen Lebensbereichen deutlich schlechter. Die jungen Erwachsenen, die das ISS über 20 Jahre begleitet hat und denen es nicht gelungen ist, der Armut zu entkommen, hätten alle ähnliche  Probleme. Ihr Alltag sei geprägt durch Verzicht und die Anstrengung, ständig irgendwo etwas Geld einzusparen. Sie seien schlechter qualifiziert, weil sie nie die Chance hatten, Erfahrungen im außerschulischen Bereich zu sammeln – durch Sprachreisen, Schüleraustausch oder gar Auslandsaufenthalte. Ihre sozialen Netzwerke seien schlechter und sie hätten häufiger keine feste Partnerschaft. Und im Alter von 25 Jahren seien die Folgen für ihre psychische Gesundheit gravierend. „Sie berichten deutlich häufiger von depressiven Symptomen, die mehrmals pro Woche auftreten, von einschneidenden Erlebnissen im Leben, die sie heute noch belasten“, heißt es in der Studie.

„Ich vertraue nicht vielen Leuten."

Eine Erfahrung, die Dennis auch gemacht hat. Er war lange in psychiatrischer Behandlung, hat eine Zeit lang viel getrunken und seine Online-Spielsucht nur schwer in den Griff bekommen. Es fällt ihm schwer, sich gegenüber anderen zu öffnen.

„Ich bin sehr kalt zu anderen Menschen, versuche immer, eine emotionale Distanz aufzubauen. Ich möchte nicht, dass mich Menschen in irgendeiner Weise emotional beeinflussen. Ich möchte niemandem etwas schuldig bleiben. Und ich vertraue nicht vielen Leuten“, sagt er über sich. Das Gefühl, mit 26 Jahren seine letzte Chance zu haben, seinem Leben eine positive Wende zu geben, setzt Dennis  enorm unter Druck. Aus Geldmangel ist er gezwungen, derzeit  wieder bei seinen Eltern zu wohnen. „Ich bin froh, wenn ich da wieder weg bin. Es ist heute noch so. Wenn ich abends für zehn Minuten mit ihnen im Wohnzimmer sitze, kann ich mir die ganze Versager-Litanei wieder anhören.“

Umwege und Nischen für Kinder aus armen Familien

Allein aus diesem Grund ist er gewillt, seine Chance zu nutzen. Auch das ist typisch für seine Biografie und wirft ein positives Licht auf das Bildungssystem in Deutschland, das ja oftmals so kritisiert wird. Klar,  die Bildungschancen seien ungleich, sagen die Wissenschaftler. Aber immerhin müsse man das „Potenzial der Umwege und Nischen“ hervorheben, die gerade von armen jungen Menschen überdurchschnittlich gut genutzt werden. In den Augen vieler junger Menschen werde das Bildungssystem außerhalb der  klassischen Schulstruktur „als eine Form von Schule wahrgenommen, die passgenau auf die Bedürfnisse von Kindern aus armen Familien reagiert“. Dazu zählten der individuelle Blick der Lehrer auf die Schüler und die sozialen Beziehungen zu ihnen. Und pädagogische Fachkräfte, „die sich kümmern, auch über die Schulmauern hinaus“.

Eine Erfahrung, die auch Dennis  gemacht hat. Und die sich in seinem Fall auch positiv auf seine Leistungen ausgewirkt haben. Seine Vornoten fürs Abitur sind so gut, dass er sich um die Prüfungen wohl keine  Sorgen machen muss.

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