Ausgestorbener BerufErinnerungen an die alten Pinnemacher aus Bergisch Neukirchen

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Schützenfest in Pattscheid im Jahr 1932 auf der Burscheider Straße.

Schützenfest in Pattscheid im Jahr 1932 auf der Burscheider Straße.

Leverkusen – Der „Durchbruch“ kam mit der Dampfmaschine, die sich Günter Vogelsangs (Jahrgang 1929) Urgroßvater August Klingelhöfer nach dem Krieg gegen Frankreich 1871 zulegte. Es war die Gründerzeit und auch für das kleine Gewerbe der „Pinnemacher“ sollte es Erleichterung bei der Arbeit geben. Vogelsang erinnert sich in seinem Bericht „Die Neukirchener Pinnemacher“ im neuen Heft „Niederwupper 30“ an das Gewerbe, das in dieser Bezeichnung kaum mehr geläufig sei.

Gemeint ist die Bearbeitung von Oberteilen oder Griffen für Bestecke, die entweder aus Holz oder Knochen gefertigt wurden. In ihnen wurde das Metall eingefasst und die Pinne konnten in Heimarbeit für die Solinger Schneidwarenindustrie hergestellt werden. Wie Reinhold Braun, Mitherausgeber des „Niederwupperhefts“, erklärt, war der Begriff Pinnemacher dem Deutschen Klingenmuseum und dem Stadtarchiv Solingen bisher nicht bekannt. Die Knochen für die Pinne kamen aus Amerika und waren laut Vogelsang teuer.

„Holz hingegen war reichlich vorhanden. Es wuchs in den vielen Obsthöfen der Bergischen Obstkammer heran. Gut geeignet war Kirsch- und Pflaumenbaumholz, Buchenholz aus den umliegenden Wäldern und Ebenholz und Kakaobaumholz von den Abfällen der Schreiner- und Möbelindustrie“, erinnert sich Vogelsang, der in Romberg im Haus seiner Vorfahren lebt.

Ein bisschen Wehmut klingt in seinen Erinnerungen an das einstige Bergisch Neukirchen mit. „Bergisch Neukirchen ist auch lange nicht mehr das, was es einmal war: Ein idyllisches Dorf, sondern ein anonymer Stadtteil wie viele andere auch: gleichgeartet.“

Die Vorfahren des Zweigs Klingelhöfer konnten auf das alte Handwerk auch in Zeiten zurückgreifen, in denen wieder Arbeitslosigkeit und Not herrschte. Vogelsang erinnert sich: „Mein Urgroßvater August Klingelhöfer hatte drei Söhne und drei Töchter. Die Söhne wurden Handwerker. Kuno betrieb einen Friseursalon mit Puppenreparatur in Wermelskirchen, Rudolf, genannt Rüffel, wurde Schreinermeister im eigenen Betrieb in Solingen, Walter, mein Großvater, war Schlosser bei Tillmanns in Neucronenberg, Meister und Sanitäter im Roten Kreuz.“ 1930 wurde er arbeitslos. Er wurde zum Pinnemacher, kam beim angeheirateten Verwandten Hugo Müller in Arbeit, der eine damals moderne Werkstatt in Hüscheid hatte.

Mit dem Henkelmann zur Arbeit

Der heute über 90-jährige Enkel erinnert sich, wie der Großvater mit dem Henkelmann zur Arbeit ging. Darin war Suppe und in einer zweiten Lage Kartoffeln und Gemüse, manchmal Freischoder Wurst. Sein Essen habe er immer auf einem Baumstumpf vor der Werkstatt gegessen und der Enkel durfte ihm währenddessen Gesellschaft leisten. Höchste Konzentration war bei der Arbeit mit den Sägen angesagt. „Da saß Opa mit einer großen Lederschürze und einer Kriegervereinsmütze auf dem Kopf hinter einer mittelgroßen Kreissäge, mit der er die Pinne zurechtsägte“, erinnert sich Vogelsang. „Um ihn herum eine Wolke von Sägestaub, der in der ganzen Werkstatt hoch den Boden bedeckte.“

Ein Anschlag neben dem Sägeblatt habe dafür gesorgt, dass die Pinne immer das gleiche Maß hatten. Es sei verboten gewesen, während der Arbeit spazierenzugucken. Sie durften während ihrer Tätigkeit nicht aufblicken. Zu sechs Leuten saßen sie in der Werkstatt. Eines Tages habe es den Opa dann doch erwischt. „Er hatte sich den rechten Daumen so abgesägt, dass er nur noch an einem Hautfetzen hing“, erinnert sich der Enkelsohn.

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Doch der Opa war gut vernetzt, war er doch selbst im Sanitätsdienst tätig. Er band sich den Arm ab und verband die Hand mit dem Taschentuch. Daraufhin ging es ins Opladener Krankenhaus. Dort praktizierte sein Rot-Kreuz-Chef Dr. Stehle. „Mit ihm war Opa per Du.“ Walter Klingelhöfer hatte übrigens den Beinamen „Der Dicke“, da er im örtlichen Turnverein Gewichte stemmte. Und er war offenbar nicht zimperlich. Er sei entrüstet gewesen, als der Arzt befand, dass der Daumen nicht mehr zu retten sei. Er setzte durch, dass er wieder angenäht wurde. „Dies geschah und mein Großvater behielt seinen Daumen für den Rest seines Lebens und es machte ihm nichts aus, dass er taub und gefühllos war, er war durchblutet und tat seinen starren Dienst“, sagt Vogelsang.

Auch vom Gemüsegarten des Opas schreibt er. Dort schaute Walter Klingelhöfer auf dem Weg zur Arbeit vorbei. Gemüse für die Familie und das Kleinvieh wuchsen dort. Stolz sei der Großvater auf seine Birnenbäume gewesen, die Sorten „Köstliche“ und Crodenier“. Zum Pflücken musste eine Leiter mitten auf die auf die Straße gestellt werden. Auch das wäre heute nicht mehr möglich, wie überhaupt der Charakter des Obstanbaus in Bergisch Neukirchen mit seinen Neubauten heute nicht mehr so präsent sein dürften wie in der Kindheit von Günter Vogelsang.

Das Heft „Niederwupper 30“ mit historischen Beiträgen gibt es im Buchhandel bei Gottschalk in Schlebusch und Noworzyn in Opladen sowie Langen und Leichlingen, es kostet zehn Euro.

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