Ultras Leverkusen im Interview„Wir sind Menschen mit Ecken und Kanten“

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Ein Leben zwischen Fußballleidenschaft, sozialem Engagement und Kritik: Michél Haase und Loredana Cosentino (rechts) von den Ultras Leverkusen, links sitzt Daniela Frühling vom Fanprojekt Leverkusen. 

Leverkusen  – Ultras sind die leidenschaftlichsten unter den Fußballfans und richten ihr komplettes Leben nach dem eigenen Verein aus. Sie sind aber auch die streitbarsten, da sie ihre Meinung häufig und nicht immer nur diplomatisch kund tun. Das beschert ihnen, ebenso wie die mitunter offen geäußerte Skepsis bis Ablehnung gegenüber Teilen der Medien, immer wieder heftige Kritik.

Manche bezeichnen sie gar als Gewalttäter und Gewalttäterinnen – und übersehen dabei doch, dass sich Ultras wie kaum eine andere Fangruppierung sozial und gesellschaftlich engagieren. Auch im Falle der Ultras Leverkusen ist das so, was nicht zuletzt die vergangenen Jahre mit Pandemie und Flut zeigten. Wir haben uns mit zweien ihrer Mitglieder – Michél Haase und Loredana Cosentino – sowie der Leiterin des Fanprojekts Leverkusen, Daniela Frühling, zum Gespräch getroffen.

Herr Haase, Frau Cosentino, Sie sind Mitglieder der Ultras Leverkusen. Sprich: Für Sie ist es essentiell, jede Woche gemeinsam ins Stadion zu gehen. 2020 aber kam Corona. Wie schauen Sie derzeit – und seit knapp zwei Jahren – eigentlich Fußball?

Michél Haase: Wir konnten uns in dieser Zeit manchmal in kleine Gruppen aufsplitten und vor den Fernseher setzen. Das ist aktuell ja immer noch so. Aber es gab ja auch Zeiten, in denen selbst das nicht ging. Und da wir keine Corona-Schleudern sein und Solidarität zeigen wollen, haben wir dann eben unter anderem ganz allein geschaut. Vielleicht mal zu zweit.

Warum ich frage: Der soziale Austausch fiel weg. Das galt zwar für alle Menschen. Aber: Gerade eine so von der Gemeinschaft und dem regelmäßigen Stadion-Erlebnis lebende Gruppe wie die Ultras dürfte so etwas doch extrem hart treffen, oder?

Daniela Frühling: Wie Sie schon sagen: Das war nicht nur bei den Ultras so und betraf auch viele andere Anhänger, die in der Kurve stehen. Viele Jugendliche, mit denen wir als Fanprojekt zusammenarbeiten und deren Hauptaugenmerk der Spieltag ist, an dem sie mit Freunden und Freundinnen als Gruppe ins Stadion gehen. Aber: Die Ultras betraf das sicherlich noch mehr, weil sie dieses Gemeinschaftsgefühl ja quasi an sieben Tagen in der Woche und rund um die Uhr leben.

Da musste in Zeiten des Lockdowns ein Umdenken stattfinden. Und wenn junge Menschen in dieser Situation dann eben dieses Verantwortungsgefühl an den Tag legen und sich zurückhalten für das Gemeinwohl, ist das schon großartig.

Haase: Wir hatten auf der einen Seite zwar nicht diese Möglichkeit, uns in der großen Gruppe zu treffen. Aber: Auf der anderen Seite hatten wir gerade aufgrund des fehlenden Fußballs auch Kapazitäten frei und konnten uns anderweitig engagieren. Und so haben sich eben kleine Grüppchen gefunden, die karitativ unterwegs waren – gerade in der Anfangszeit des ersten Lockdowns.

Sie sprechen die Einkaufshilfe an, die Sie damals vor allem für die Menschen anboten, die nicht selbst aus dem Haus konnten, um sich zu verpflegen. Und so, wie Sie das sagen, hört sich das recht simpel an. Aber: Wie schnell lässt sich so etwas in einer solchen Krisenzeit tatsächlich organisieren?

Loredana Cosentino: Wir sind super organisiert und strukturiert und haben sowieso eine Nummer – die der Kurvenhilfe – unter der wir immer erreichbar sind.

Haase: Die ist normalerweise unter anderem dafür da, um Fans etwa bei rechtlichen Problemen zu helfen.

Cosentino: Genau. Und die haben wir dann umfunktioniert. Unter der konnte man uns jederzeit erreichen.

Haase: Mit unserem Umfeld können wir schon kurzfristig 150 bis 200 Leute mobilisieren. Zudem hatten viele aus unseren Reihen auch Kurzarbeit und dementsprechend Zeit, sich anderweitig zu engagieren. Wobei es ja auch nichts Großes ist, etwa ein Dankes-Banner für die Pflegekräfte des Klinikums zu malen oder Päckchen mit Schokolade an sie zu verteilen. Wertschätzung benötigt nicht viel. Die kann man sehr leicht äußern – aber dafür ist sie umso wichtiger.

Könnte man sagen: Sie haben aus der Not der fußballlosen Zeit eine Tugend gemacht – sprich: Sie konnten helfen und hatten gleichzeitig etwas zu tun?

Haase: Auf der einen Seite ja. Aber auf der anderen Seite muss man auch einfach sagen, dass wir in Leverkusen eben relativ wenige Organisationen haben, die viele Leute erreichen und Verantwortung übernehmen für die Stadt. Das ist ein Problem. Nicht erst seit gestern. Und insofern war es für uns überhaupt keine Frage, ob wir helfen, sondern nur wie wir helfen. Wir haben uns ja nicht umsonst das Motto „Für Stadt und Verein“ auf die Fahnen geschrieben.

Können Sie dieses Leverkusener „Problem“ etwas genauer beschreiben?

Haase: Nun: Ich habe keinen Vergleich und weiß nicht, wie es in anderen Städten ist. Aber wir haben es auch bei der Fluthilfe im vergangenen Jahr gesehen: Da haben wir ja Privatmenschen – darunter vielen Senioren – sowie Unternehmen und Organisationen wie dem Naturgut Ophoven, dem „Wurzelwerk“ oder dem Küchenstudio Opladen geholfen. Und das, was wir gemacht haben, hätte eigentlich die Stadt machen müssen. Wenn wir nicht in die Bresche gesprungen wären, dann wären Menschen gestorben.

Wären in ihren Wohnungen verhungert. Da erzähle ich keinen Mist. Das ist einfach so. Krisenmanagement können wir jedenfalls. Wir hatten Listen mit Adressen, wo wer Hilfe benötigt – und da konnte sich jeder eintragen. Wir haben die sozialen Medien genutzt, haben Sprachrohre wie den Fan-Dachverband NK12, also „Nordkurve12“, und den Verein mit ins Boot genommen, zu dem wir jetzt schon seit Jahren eine sehr gute Beziehung haben. Und dadurch erreichen wir eben sehr viele Menschen. Zudem haben wir keine Hemmungen. Wir machen einfach. Was kann denn dabei schiefgehen? Wenn Sie ein konkretes Beispiel hören möchten…

Sehr gerne.

Haase: In den ersten Tagen nach der Flut kam ja vom Bund relativ schnell die Info zur Flut-Soforthilfe. Da ging es darum: Was kann gemacht werden? Wie kann das Geld beantragt werden? Diese Info wurde unter anderem in vielen sozialen Medien gepostet. Hier in Leverkusen gab es aber viele Menschen, die hatten zu dieser Zeit gar keinen Strom, kein Telefon, kein Internet. Wie sollen die sich denn da informieren? Und in so einer Situation erwarte ich eigentlich, dass die Stadt sich möglichst zügig etwas einfallen lässt. Wir haben uns auch dort gemeldet und gefragt, was denn nun geplant sei.

Darauf hieß es aber nur: „Naja, wir müssen erst dieses und jenes vorbereiten.“ Sprich: Das dauerte viel zu lange. Es war viel zu bürokratisch. Also haben wir einfach den entsprechenden Beitrag aus den sozialen Netzwerken fotokopiert, auf 500 Blätter geklebt – und haben die in den betroffenen Straßen aufgehängt. Und die Leute waren unheimlich dankbar.

Die Stadt ist ihrerseits nicht auf Sie zugekommen?

Haase: Doch. Wir wollen ja auch nicht nur schlecht über die Stadt reden. Es gab etwa Kontakt zwischen den Vorstand der NK12 und dem Dezernenten Marc Adomat, der sehr engagiert war. Dabei ging es darum, Kräfte zu bündeln und Synergien zu bilden. Und dadurch sind Leute von uns etwa mit dem Krankenwagen und dem Arbeiter-Samariterbund mitgefahren und haben Getränke an die Helfenden verteilt. Aber letztlich ist es so: Die Stadt ist dankbar für jede Hilfe, die über den kurzen Dienstweg geht und hat ja auch eingeräumt, dass sie selbst diesbezüglich nicht wirklich gut ausgesehen hat und dankbar für die Hilfe aus der Bürgerschaft heraus war. Natürlich: Auf so etwas wie die Flut ist man nicht vorbereitet. Aber warum reden wir denn immer über ein angeblich so gut organisiertes Deutschland? Ich hoffe, dass daraus etwas erwächst für die Zukunft.

Bleiben Sie weiter an der Fluthilfe dran?

Cosentino: An der Fluthilfe eher weniger. Da geht es ja mittlerweile um professionelle Hilfe, die nun von Firmen geleistet werden muss. Aber es gibt ja auch so immer wieder Notwendigkeiten. Wir haben uns beispielsweise immer auch an der Aktion „Wir für unsere Stadt“ beteiligt und Müll aufgesammelt. Während Corona ging das nicht. Aber wir sitzen gerade mit den Leuten von der NK12 zusammen und wollen im März etwas in dieser Richtung selbstständig auf die Beine stellen. Denn auch das sind Dinge, die die Stadt belasten. Solche Aktionen machen wir, damit die Stadt einfach schön ist.

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Haase: Unsere Hilfe ist immer situationsbedingt. Wir versuchen dort zu helfen, wo schnelle Hilfe gefragt ist. Wir versuchen überhaupt immer, sozial tätig zu werden. Ob in der Pandemie mit den Einkaufshilfen oder der Unterstützung für die lokale Gastronomie. Ob im Wildpark Reuschenberg oder in Bezug auf das neue Palliativzentrum, für das wir immer mal wieder Spenden sammeln.

Cosentino: Wir haben auch schon mit dem Kältegang Leverkusen zusammengearbeitet. Wir haben an Familien mit Kindern, die sich keinen Weihnachtsbaum leisten können, Bäume mit Schmuck verschenkt – und da war die Freude riesig! Das ist immer wieder toll zu sehen.

Haase: Bei vielen dieser Aktionen ist auch die Kooperation mit dem Verein sehr gut – etwa wenn es darum geht, Trikots oder andere Fanutensilien mit zu verschenken.

Und das obwohl die Ultras gegenüber dem Verein ja nicht immer ein reibungsfreies Verhältnis haben.

Haase: Naja: Bei aller guten Zusammenarbeit muss sich Bayer 04 aber dann auch unbequeme Dinge von uns anhören – etwa wenn die Mannschaft im Trainingslager in Zell am See ist, hier die Stadt absäuft und diese Sache dem Verein nicht mal eine Meldung in den Sozialen Medien wert ist, während andere Klubs bereits erste Fluthilfen organisieren.

Haben Sie denn den Eindruck, dass sich speziell durch dieses verstärkte soziale Engagement in den vergangenen zwei Jahren die öffentliche Meinung über die nicht selten als „böse“ dargestellten Ultras geändert hat – zumal sich ja Ultras bundesweit beteiligten?

Haase: Im Falle der Fluthilfe war es bei uns so: Die Leute wussten durchaus, wer das alles organisiert hat. Und das waren – neben vielen anderen natürlich – eben auch wir Ultras. Ob sich nun generell in den Köpfen derer, die eine schlechte Meinung über uns hatten, etwas geändert hat, kann ich zwar nicht sagen. Aber ich weiß, dass diese Leute zumindest zu diesem Zeitpunkt immens dankbar waren. Da gab es keinerlei Berührungsängste. Alle wussten, wer wir sind und haben sich mit uns unterhalten. Da haben Dinge, die davor über uns durch die Presse gingen, keine Rolle gespielt.

Zum Beispiel die Schmäh-Plakate gegen den Hoffenheimer Fußball-Mäzen Dietmar Hopp. Auch wenn die nicht von Leverkusener Seite aus kamen: Sie waren unmittelbar vor Beginn der Pandemie der Auslöser dafür, dass deutschlandweit plötzlich auf alle Ultras extreme Kritik einprasselte. Plötzlich waren Sie für viele Menschen keine richtigen Fans mehr, sondern Gewalttäter. Den meisten Personen, die sich kritisch äußerten, dürfte Ihr soziales Engagement gar nicht bewusst gewesen sein, oder?

Haase: Viele Menschen bekommen den Input durch die Presse – und die berichtet über die Ultras eben sehr oft sehr einseitig. Man muss das, was da an Dietmar Hopp kritisiert wurde, eben einmal genau beleuchten. Man muss so eine Aktion auch mal hinterfragen. Man muss sich informieren, warum diese Kritik geäußert wird – und dann kann man sich auch eine Meinung bilden anstatt einfach zu schimpfen: „Ihr habt den verunglimpft.“ Und klar ist: Wer sich informieren will, bekommt auch die tiefergehenden und erklärenden Infos. Wer aber nicht gewillt ist, das zu tun, der liest eben nur die „Bild“-Schlagzeile und denkt: „Böse Ultras!“

Dennoch: Welche Schuld an diesem Image, das viele Menschen von Ihnen haben, tragen Sie selbst?

Haase: Ich sage es mal so: Wir sind keine Engel. Wir sind nicht die liebsten Menschen. Wir sind keine Menschen, die ihr Saubermann-Image pflegen. Wir sind Menschen mit Ecken und Kanten, und es gibt sicherlich schlechte Dinge, die man über uns berichten kann. Oder über die negativ berichtet wird, während sie sich für uns ganz anders darstellen. Und dazu kann man natürlich auch seine Meinung haben. Aber ich finde: Wenn man über Ultras spricht und urteilt, dann sollte man das nicht nur auf „Bild“-Niveau tun, sondern auch die andere Seite, unsere Seite hören. Oder man sollte zumindest versuchen, sich in seriösen Medien zu informieren, die auch wirklich neutral berichten.

Frühling: Ich denke, es ist einfach sehr wichtig, sich mit dem Thema Subkultur auseinanderzusetzen, wenn es um Ultras geht. Nicht alles, was in einer Subkultur passiert, muss man gut finden. Aber man muss hinterfragen, warum eine Subkultur etwas macht.

Haase: Und wenn man versucht, eine Subkultur zu beschneiden, dann – muss man sagen – kann es eben auch mal ungemütlich werden.

Frühling: Man muss im Austausch bleiben. Das ist wichtig. Wie denken die Ultras? Wie denkt die aktive Fanszene generell? Man muss und kann ja nicht immer nur einer Meinung sein. Man wächst doch nur, wenn man über den Tellerrand schaut. Und das kann dann schonmal irritierend sein und zu Spannungen führen. Menschen, die über den Tellerrand hinausgehen, kommen eben häufig auch ungemütlich rüber.

Haase: Man kann auch nicht leugnen, dass sich Ultras – und viele andere aktive Fans – an Spieltagen reichlich stumpf verhalten. Verbal. Auf Plakaten. Auch in Leverkusen. Aber durch so etwas erweckt man eben auch Aufmerksamkeit. Ganz einfach. Das macht man sich zunutze. Doch wenn die Leute mal zwischen den Zeilen lesen würden, dann würden sie merken, dass sich diese Fans mit komplexen Themen beschäftigen, über die sie selbst nie nachdenken. Es gibt bei uns Leute, die wälzen Paragrafen über Stadionverbotsrichtlinien. Die wälzen Paragrafen darüber, wie das Engagement von Sponsoren und Investoren hierzulande in den Ligen und Verbänden geregelt ist. Und wenn Ultras nur so stumpf wären, wie es die öffentliche Meinung suggeriert, dann wären wir, dann wäre die Ultrakultur auch nicht in der Lage, sich mit Verbänden und Gremien zusammenzusetzen und mit diesen zu diskutieren. Auf Augenhöhe.

Wie ernst werden Sie – abgesehen von Ihrem sozialen Engagement in Leverkusen – von Bayer 04 genommen?

Haase: Ich habe nach zehn Jahren Kontakt und Austausch mit dem Verein das Gefühl, dass man uns von dort durchaus sehr ernst nimmt und uns auch mal nach unserer Meinung fragt.

Wie sieht es mit Ultras und Politik aus – auch diesbezüglich gibt es ja mitunter wilde Unterstellungen an Ihre Szene?

Haase: Gerade rechter Politik wird von der Ultrakultur hierzulande meiner Meinung nach recht deutlich eine Absage erteilt. In Leverkusen ist es nun so, dass wir Politik generell aus dem Stadion raushalten wollen. Fußball ist nämlich etwas, bei dem man für eine Zeit lang aus der Realität herauskommt. Aus dem Alltag, der uns umgibt. Beim Fußball, so sage ich das mal, lebe ich für das, für das ich lebe: für meinen Verein.

Macht man es sich damit in hoch politischen Zeiten nicht ein bisschen zu einfach?

Haase: Wir wurden tatsächlich schon häufiger für unsere Haltung kritisiert. Nach dem Motto: „Unpolitisch schön und gut. Trotzdem müsst Ihr doch gegen Rechts vorgehen.“ Aber wenn ich im Stadion jemanden kennenlerne, dann frage ich ihn oder sie nicht nach der politischen Meinung. Dann ist mein Gegenüber Fan von Bayer 04 Leverkusen und es interessiert mich nicht, was er oder sie in der Freizeit macht. Wir kriegen in dem Moment ein Problem miteinander, wenn er oder sie die persönliche politische Meinung nach außen trägt und meine Kurve damit verunglimpft und es ist doch klar: Fängt jemand an, mit verfassungsfeindlichen Zeichen herumzulaufen und in eine radikale Schiene zu geraten, dann wird aussortiert.

Aber es ist doch so: Immer dort, wo viele Menschen zusammenkommen, existieren auch viele Meinungen. Und wenn man darauf eingehen würde, dann würde man sich auseinanderdividieren. Man muss sich letztlich fragen: Worum geht es uns denn? Und die Antwort ist: Es geht uns um Fußball, den Verein, die Mannschaft – und dafür ziehen wir an einem Strang.

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