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„Start“-Festival in LeverkusenWas passiert, wenn Kunst nicht „nur schön“ ist

Lesezeit 3 Minuten
Iris Berben las aus „Gleichzeit: Briefe zwischen Israel und Europa“.

Iris Berben las aus „Gleichzeit: Briefe zwischen Israel und Europa“.

Iris Berben und die Bayer-Philharmoniker bewegen im Leverkusener Erholungshaus.

Erinnerung, Geschichte und Identität: Der Abend im Leverkusener Erholungshaus entfaltet sich wie ein Geflecht aus Echos, in dem sich jüdische Lebenswelten über Zeiten und Länder hinweg verbinden. Den Anfang macht Sergej Prokofjews Ouvertüre über hebräische Themen. Die Musik wurde 1919 für ein Ensemble jüdischer Musiker in New York geschrieben, die aus Russland geflüchtet waren. Die Melodien klingen fremd und vertraut zugleich – sie erinnern an Klezmer, also traditionelle jüdische Festmusik, doch in einer neuen, anders kunstvollen Form. Unter der Leitung von Jesús Ortega Martínez erwecken die Bayer-Philharmoniker das Stück mit Klarheit und tiefem Einfühlungsvermögen zum Leben.

Dann tritt Iris Berben auf. Sie liest aus dem Buch „Gleichzeit: Briefe zwischen Israel und Europa“ – ein Briefwechsel zwischen der deutsch-israelischen Autorin Sasha Marianna Salzmann und dem Musiker und Journalisten Ofer Waldman. Ihre Texte handeln von dem, was es bedeutet, heute in Europa oder Israel jüdisch zu sein – voller Fragen, Widersprüche und Gefühle. Berben liest mit großer Ruhe, aber gerade deshalb mit großer Intensität: „Du schreibst meinen Namen und die Zeit verklebt sich, Vergangenheit und Gegenwart. Die Zukunft, in die wir schauen, wird zum Spiegel. Ein Trost, immerhin: Ich sehe dich darin.“ Es sind keine Reden, sondern sehr persönliche Gedanken – offen, nachdenklich, manchmal wütend. „Wenn wir nicht wieder aufstehen, wird der Krieg uns verschlingen“, liest sie. Und der ausverkaufte „Start“-Festival-Saal hört gebannt. Man spürt: Hier wird etwas ausgesprochen, das viele bewegt, aber nur selten mit solcher Klarheit geteilt wird.

Ein Abend mit Haltung beim „Start“-Festival im Erholungshaus

Der musikalische Hauptteil gilt dann Dmitri Schostakowitsch. Sein Liederzyklus „Aus jüdischer Volkspoesie“, geschrieben 1948, wirkt ironischerweise wie ein stiller Protest. Zu dieser Zeit geriet jüdische Kultur in der Sowjetunion in den Fokus ideologischer Repression und wurde zunehmend unterdrückt und zensiert, viele Kunstschaffende wurden verfolgt. Schostakowitsch vertonte elf jüdische Gedichte – einfache Texte über Alltag, Liebe, Schmerz und Hoffnung.

Doch unter der Oberfläche klingt viel mit: Angst, Mut, Trauer. Die drei Gesangssolistinnen und -solisten – Anush Hovhannisyan (Sopran), Lioba Braun (Alt) und Thomas Ebenstein (Tenor) – erzählen mit ihren Stimmen von diesen Welten. Ihr Gesang ist klar, nahbar, eindringlich – und trifft ins Herz. Es ist, als würde sich mit jedem Ton ein Erinnerungsraum öffnen.

Leverkusen: Bayer-Philharmoniker bewegen beim „Start“-Festival

Den Abschluss bildet Max Bruchs „Kol Nidrei“ – auf Deutsch: „Alle Gelübde“. Das Stück basiert auf einem jüdischen Gebet, das traditionell zu Beginn des jüdischen Feiertags Jom Kippur gesungen wird. Bruch selbst war Protestant, aber der Kölner sei fasziniert gewesen von der Ausdruckskraft dieser Melodie. Cellistin Cosima Gietzen spielt das Werk mit großer Tiefe: Es ist ein Moment der Einkehr – keine große Geste, sondern ein leises musikalisches Nachdenken.

Hier endet das Konzert mit einem offenen Gefühl. Wie viele Veranstaltungen des „Start“-Festivals zeigt dieser Abend in besonderem Maße, was Kunst leisten kann, wenn sie nicht „nur schön“, sondern bedeutsam sein will. Die Erinnerung an jüdisches Leben wird hier nicht als Mahnung vorgetragen, sondern als lebendige Kultur sichtbar gemacht. In einer Zeit, in der jüdisches Leben in Europa wieder verstärkt unter Druck gerät, wirkt dieser Abend fast wie ein Gegenzauber: leise, eindrucksvoll, verbindend. Und das Publikum? Es ist nicht nur berührt, es ist verändert. Es bleibt ein Gefühl zurück, das mehr ist als Nachklang – es ist ein Staunen über die Kraft des Erinnerns.

Er zeigt, dass Zuhören eine Form des Handelns ist und dass Musik Geschichten erzählen kann, die im Alltag oft überhört werden. Bei einem Konzert als Klangraum der Erinnerung verlässt man den Saal nicht leicht. Man trägt etwas mit sich – ein erinnerndes Echo, das bleibt.