„Sie kommen jetzt rein“Israelisches Fußballteam erzählte in Leverkusen vom Kriegsschrecken

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Yanay Katzir (l.) und Tomer Itamari verloren Familienangehörige und Freunde beim Terror-Angriff der Hamas am 7. Oktober in Israel – und suchen nun in Leverkusen ein paar Momente der Ablenkung.

Yanay Katzir (l.) und Tomer Itamari verloren Familienangehörige und Freunde beim Terror-Angriff der Hamas am 7. Oktober in Israel – und suchen nun in Leverkusen ein paar Momente der Ablenkung.

Als Terroristen der Hamas zahllose Menschen in Israel ermordeten, traf es auch Verwandte und Freunde von Yanay Katzir und Tomer Itamari. 

In dem Moment, in dem Yanay Katzir und Tomer Itamari am Sonntagabend um 19.30 Uhr in der Bay-Arena saßen und den Fußballern von Bayer 04 und dem VfL Wolfsburg beim Fußballspielen zuschauten, werden sie womöglich zumindest ein paar kurze Momente gehabt haben, in denen sich ihr Denken wirklich nur darum drehte, ob der nächste getretene Ball ins Tor gehen oder ob die Werkself auf dem Weg zur ersten Meisterschaft am Ende die drei Punkte in Leverkusen behalten würde.

Sprich: Yanay und Tomer konnten für ein paar Sekunden ihr Bewusstsein wirklich auf etwas ganz und gar Alltägliches, etwas vollkommen Nebensächliches und etwas eigentlich total Unwichtiges wie ein Fußballspiel lenken. Es war für beide streng genommen das erste Mal seit fünf Monaten. Seit dem 7. Oktober 2023. Seit dem Tag, an dem Yanays und Tomers Leben in einen Teil vor und einen Teil nach dem Terrorangriff der Hamas auf Menschen in Israel getrennt wurde.

Yanay und Tomer wollen ihre Geschichte erzählen

Die beiden Amateurfußballer ihres Teams namens Foxes Of Kfar Gaza sind nämlich direkt Betroffene dieser Tragödie. Sie leben, wie die meisten ihrer Mannschaftskollegen, wie ihre Familien, ihre Freunde und Freundinnen, im Kfar-Kibbutz nahe dem Gazastreifen. Und sie sind nun in Leverkusen gewesen, um einmal kurz, nur ganz kurz, zu vergessen. Durchzuatmen. Und um ihre Geschichte zu erzählen. 

Yanay Katzir, der 35-jährige Trainer der Foxes, verlor seinen Vater. Auf einer Jeep-Tour sei der gewesen, als er den Hamas-Terroristen in die Hände fiel. Irgendwann habe er sich einfach nicht mehr gemeldet. „Und er war jemand, der sich immer meldete, wenn er unterwegs war.“ Yanays Mutter hatte Glück im Unglück: Sie konnte sich in ein Versteck flüchten, wo sie 32 Stunden ausharrte, ehe sie gerettet wurde.

Tomer Itamari verlor wiederum Vater und Mutter. Er sei mit seiner Freundin im Ausland unterwegs gewesen, als sich die Nachrichten in der Whatsapp-Gruppe des Kibbutz’ überschlagen hätten: Textnachrichten, Sprachnachrichten, Videos. Schüsse. Sirenen. Schreie. Er habe am Morgen sein Handy eingeschaltet – und sei im Chaos gelandet. „Ich weiß ja, wo wer im Kibbutz wohnt oder wohnte“, sagt Tomer. Nacheinander seien an diesem Tag die Gruppenmitglieder im wörtlichen Sinne verstummt. „Ich konnte die Route der Terroristen durch den Kibbutz am Handy nachverfolgen.“ Seine Eltern hätten noch eine kurze Abschiedsnachricht geschickt. Und ein „Sie kommen jetzt rein.“ Und dann war da: Stille.

72 Tote binnen 24 Stunden

72 Menschen allein aus dem Umkreis der Foxes sind am 7. Oktober 2023 getötet worden. „Binnen 24 Stunden“, betont Yanay. „In der Zeit danach hatten wir 58 Beerdigungen in einer Woche.“ Was vor allem bedeutet: keine Zeit für Trauer. Keine Zeit, sich mit dem Schrecklichen auseinanderzusetzen. „Wir waren immer unterwegs, immer beschäftigt.“ Bis heute ist das so. „Wäre es anders“, sagt Yanay, „würden wir wohl zusammenbrechen“. Aktiv bleiben, um nur ja nicht zur Ruhe und ans Denken zu kommen.

Was den beiden Israelis – und mit ihnen 19 weiteren von aktuell noch 25 Teammitgliedern, die auf Einladung von Bayer Israel und Bayer Global ins Rheinland gekommen sind – zuletzt ein wenig geholfen hat, waren keine Therapeuten. Das war der Fußball. Ihr Team. „Vor Oktober waren wir nur ein Fußballverein. Der erfolgreichste in unserer Region“, sagt Tomer. Amtierender Amateurmeister sogar. „Aber heute sind wir eine Familie.“ Denn: Jeder wisse, was der andere durchgemacht habe. Alle seien gemeinsam durch die Hölle gegangen – und täten das noch. Weil sich zum einen die Geister alles andere als leicht vertreiben lassen. Und weil zum anderen noch immer fast zwei Dutzend Verwandte und Bekannte vermisst werden. „Sie wurden gekidnappt und sind bis heute nicht wieder aufgetaucht.“

Auch deshalb sei es ihnen wichtig, nun so viel wie möglich herumzukommen in der Welt.  „Wir wollen unsere Geschichte erzählen“, sagt Yanay. Was die Welt da draußen im Großen denke, – eine Welt, in der nach dem 7. Oktober plötzlich alle zu Experten im Konflikt zwischen Israel und Gaza wurden und in der der Antisemitismus in all seiner Erbärmlich- und Gefährlichkeit wieder aufflammte – könne er nicht beeinflussen und ändern.  „Das ist, wie es ist.“ Aber bei jedem persönlichen Treffen könne er die Menschen unmittelbar berühren, die ihm und seinen Freunden direkt gegenübersitzen.

Und das sei das Wichtigste – zumindest das Wichtigste neben dieser einen Entscheidung, die Yanay und Tomer irgendwann getroffen haben: „Die fürs Leben“, wie Tomer sagt. Er hat eine jüngere Schwester, ist mittlerweile verheiratet und will bald eigene Kinder haben – und für all diese Menschen sei er nun zuständig. „Ich wurde auf einen Schlag Waise – und bin nun der älteste in der Familie.“ Yanay hingegen hat bereits zwei Kinder mit seiner Frau. Zwei Töchter. Eine dreieinhalb Jahre, eine drei Monate jung. „Und die können nichts für das, was passiert ist. Die haben ein Recht darauf, dass ich ihnen das bestmögliche Leben gebe.“

Und das ist am Ende doch ein gutes Stichwort. Darum geht es. Auch am Sonntag. Im Stadion. Bei einem stinknormalen Fußballspiel. Einfach um:  Leben. 

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