Wohnungslose in Leverkusen erzählen„Die Räumungsklage kam. Und ich war raus“

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Das Team von „Kältegang Leverkusen“, rechts Deniz Palabiyikli, kümmert sich um die Obdachlosen in Leverkusen.

  • Knapp 100 Obdachlose leben in Leverkusen.
  • Der Verein „Kältegang“ hilft Menschen, die auf der Straße leben.
  • Hier erzählen wir die Geschichte von Athena, Mido, Lupo – und den couragierten Helfern.

Leverkusen – Geduld. Das ist das Wichtigste, sagt Deniz Palabiyikli. Und sie hat jede Menge davon. Zum Beispiel, als Robert auf sie zukommt und anfängt zu erzählen. Minutenlang. Davon, wie seine letzten Nächte auf der Straße waren. Dass es ihm gesundheitlich nicht gut gehe. Er erzählt von Leuten, die ihn anspuckten und als Penner beschimpften und davon, dass er solche Leute früher „so lange getreten hätte, bis die sich nicht mehr bewegt hätten“, er aber mittlerweile ein ganz anderer Mensch sei und für jeden, der ihn darum bitte, sogar sein letztes Hemd geben würde. Viel mehr besitze er ja auch nicht.

Das mit dem Erzählen würde wohl so weitergehen, wenn Deniz sich nicht irgendwann verabschieden und sagen würde: „Mach’s gut, Robert. Bis morgen.“ Denn sie muss weiter. Dem nächsten zuhören. Dem nächsten ihre Geduld schenken. Geduld ist das Pfund, mit dem ihr Verein „Kältegang Leverkusen“ wuchern kann.

100 Obdachlose in Leverkusen

Deniz hat ihn gemeinsam mit der Familie und ein paar Freunden vor einem Jahr gegründet, um denen zu helfen, die in Leverkusen auf der Straße leben. Vorrangig im Winter. Aber auch während des restlichen Jahres. Immer mehr seien das geworden zuletzt. „In Leverkusen haben wir zur Zeit 100 Obdachlose“, sagt sie. Und schiebt hinterher: „Offiziell.“ Die Dunkelziffer sei wohl höher. Entsprechend viel ist die Familienmutter und gelernte Altenpflegerin unterwegs: „Anfangs wollten wir nur ein bisschen mit dem Bollerwagen durch die Gegend ziehen und den Obdachlosen ein paar Sachen vorbeibringen“, erinnert sie sich. Mit „Sachen“ meint sie Lebensmittel. Kleidung. Dinge des täglichen Gebrauchs. Dinge, die jeder wie selbstverständlich daheim in Schränken stehen und liegen hat. Mittlerweile weiß Deniz Palabiyikli es besser: „Das ist ein Vollzeitjob geworden.“

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Zwei Boxen, „Little Homes“ stehen auf einem kleinen Schottergelände an der Bahntrasse in der Nähe des Overfeldweges. Sie sollen für ein Dach über dem Kopf und ein bisschen Privatsphäre sorgen.

Natürlich gebe es auch andere, die sich engagierten. Die Caritas. Die Stadt. Aber: „Vom Schreibtisch aus kann man nicht viel tun“, sagt sie. Ein Obdachloser habe ihr mal mit auf den Weg gegeben: „Was bringt es mir, wenn ich dreimal am Tag mit einem Sozialarbeiter »Mensch ärgere Dich nicht« spiele und abends doch wieder draußen sitze?“ Es sind Sätze wie diese, die in die Magengrube treffen. Die wie Hilferufe klingen. Es sind Sätze, die zeigen: Diese Menschen, die sich vor allem im Winter jedes Mal dem Tod aussetzen, weil die Gefahr des Erfrierens groß ist, brauchen jemanden, der immer da ist. Denn zu so einem fassen sie Vertrauen. Mit einem Menschen, der immer da ist, können sie reden. „Und zwar ohne Scham – was oft eine große Rolle spielt.“ An so einem Menschen können  sich die Obdachlosen aufrichten und wissen: „Ich bin nicht alleine.“ Viel wert ist das für jemanden, der isoliert lebt von der Gesellschaft. Aus allen möglichen   Gründen.

Bei Lupo (38) war es die ehemalige Freundin, die Dreck am Stecken hatte und von der Polizei gesucht wurde. Er versteckte sie. Er gab ihr das wenige Geld, das er überhaupt hatte als Arbeitsloser. Sie gab es für Drogen aus. Wurde geschnappt. Festgenommen. Wohnung weg. Straße.

Athena (38) wiederum lebte früher in einer kleinen Sozialwohnung an der Kerschensteinerstraße. Die wurde irgendwann renoviert. Schön aufgepäppelt. Modernisiert. Die Miete stieg. Athena konnte nicht mehr zahlen. „Die Räumungsklage kam. Und ich war raus.“ Auch für die bedeutete das: Endstation Straße. Und für eine Frau ist das nach noch schlimmer als für einen Mann. Denn Frauen sind in der Unterzahl hier draußen. Das bedeute Probleme, sagt sie. Angefangen mit „natürlichen Bedürfnissen“ wie dem getrennten Toilettengang und der Körperhygiene oder dem Wunsch, gerade als Frau halbwegs normal und hübsch auszusehen: „Ich binde mir die Haare immer zum Zopf, damit man nicht so richtig sieht, dass sie nicht gewaschen sind.“

Und bis hin zu ganz anderen Dingen: Deniz Palabiyikli berichtet von Fällen in anderen Städten, wo obdachlose Frauen von obdachlosen Männern zur Prostitution gezwungen worden seien. Athenas Glück im Unglück: Sie hat mit dem 44-jährigen Mido einen Freund. Die zwei sind als Paar unterwegs. Das schützt beide. „Auch wenn Mido oftmals viel abkriegt, wenn ich frustriert bin“, sagt sie lächelnd. Zoff sei nicht selten. Menschen streiten nunmal. Vor allem in Extremsituationen.

Spitznamen werden genutzt

Athena, Mido, Lupo – die meisten Obdachlosen haben es sich angewöhnt, einen Spitznamen zu benutzen – leben in jenem Zeltlager am Bunker Moskauer Straße in Wiesdorf, das in den vergangenen Monaten immer größer geworden ist und das Deniz Palabiyikli und ihre Kältegang-Kollegen jeden Tag besuchen. Lupo sitzt in seinem Zelt und sagt trotzig, dass er hier ein Zeichen setzen wolle. „Die Leute sollen sehen, dass wir da sind. Sie sollen sehen, dass es Obdachlose gibt.“ Und dass man diese Menschen nicht einfach ausblenden darf. Seine Forderung: Wohnungen für alle. Ein Dach überm Kopf für alle. Auf die Frage, warum er denn nicht in den Bunker gleich nebenan gehe, in dem sich die Notschlafstelle der Caritas befindet, antwortet Lupo spöttisch: „Da drin kann man nicht schlafen. Da gehe ich nicht rein.“ Deniz Palabiyikli weiß bescheid und erklärt: „Es gibt keine Fenster, keine Lüftung. Ich würde da auch nicht übernachten wollen.“ Zudem litten viele Obdachlose an Angst in geschlossenen Räumen. Auch weil nicht wenige von ihnen aufgrund diverser Dinge – das Leben auf der Straße, in der Kindheit und Jugend durchlittene traumatische Erlebnisse – unter psychischen Problemen litten. Mitunter verstärkt durch Drogen, die häufig dazugehörten.

In Leverkusen sollen jetzt zwei so genannte „Little Homes“ – „kleine Wohnungen“ – ein wenig Abhilfe schaffen. Aus Holz gebaut, knapp vier Meter lang und zwei Meter breit umfassen sie ein Bett, ein kleines Tischchen und einen Campingtoilette und bieten einer Person das ersehnte Dach über dem Kopf. Es ist zumindest ein kleines bisschen Privatsphäre. Erfunden vom gleichnamigen Kölner Verein werden die „Little Homes“ mittlerweile in vielen Großstädten von Sponsoren her- und von ehrenamtlichen Helfern wie Deniz Palabiyikli aufgestellt. Die Wartelisten für einen Einzug sind jedoch lang. Deutschlandweit stehen 19 000 Obdachlose darauf.

Die beiden Leverkusener Behausungen, die Deniz Palabiyikli jüngst mit dem Kältegang-Team in Köln abholte und selber auf eine kleines Schottergelände an der Bahntrasse in der Nähe des Overfeldweges schob, waren sofort vergeben. Die jeweiligen Bewohner können darin bleiben, bis sie eine Wohnung finden – etwa im ehemaligen Flüchtlingsheim an der Felderstraße in Rheindorf.

Gegen Mittag hat Deniz Palabiyikli ihre erste Runde durch die City hinter sich. Hat sich von Athena, Mido, Lupo und Robert per kumpelhafter „Ghettofaust“ verabschiedet. Wer sie beobachtet, dem fällt auf: Sie geht stets entschlossenen Schrittes über Straßen und Wege. Vielleicht weil sie weiß: Auch nach Weihnachten - einer Zeit, in der traditionell mehr Spenden eingehen und mehr Menschen als sonst helfen möchten - geht der Kampf des Kältegang-Teams für die Obdachlosen weiter. Es ist ein Kampf, der das ganze Jahr dauert. Das dürfe man nicht vergessen, sagt sie. Es ist: ein Vollzeitjob eben.

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