Chats, Videos, MessengerDas Spinnennetz der pädophilen Missbrauchstäter

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Tente Wermelskrichen Missbrauch

Der Hauptverdächtige im neuen Missbrauchskomplex wohnte im Wermelskirchener Stadtteil Tente.

  • Die Polizei hat ein großes Netz an mutmaßlich pädokriminellen Tätern ermittelt – 73 Personen sind beschuldigt.
  • Recherchen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ zeigen die Methoden des Rings, um Videos und anderes Material zu verbreiten.
  • Frühe Ermittlungen deuten daraufhin, dass Täter möglicherweise schon früher hätten festgenommen werden können.
  • Achtung: Dieser Text enthält explizite Schilderungen sexualisierter Gewalt an Kindern!

Köln/Wermelskirchen – Die beiden Männer ließen die Schmerzensschreie des kleinen Jungen kalt. Während Sönke G. sich in Berlin an einem seiner Betreuungskinder verging, verfolgte sein Freund aus Wermelskirchen den Missbrauch im Live-Chat via Skype. Ein „bisschen Jammern ist immer“, kommentierte der Berliner Peiniger die Tränen seines Opfers gegenüber seinem Chat-Partner, wie es in Polizeivermerken heißt. Woraufhin Marcus R., ein IT-Experte aus dem Bergischen, ihn nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ zu neuen sexuellen Übergriffen anstachelte.

Der 44-Jährige gilt als Schlüsselfigur eines monströsen Missbrauchskomplexes, dessen Ausmaße die Ermittler der Kölner Polizei und der Zentral- und Ansprechstelle für Cybercrime (ZAC) bei der hiesigen Staatsanwaltschaft noch nicht ermessen können. Bisher wurden 33 Opfer identifiziert, das jüngste war gerade einen Monat alt. 73 Tatverdächtige stehen auf der Beschuldigtenliste. Alles Chat-Partner des im vergangenen Dezember inhaftierten Markus R..

Schweizer Messenger für verschlüsselte Missbrauchsdateien

Der kinderlose Ehemann tauschte mit anderen Pädokriminellen verschlüsselte Informationen und Missbrauchsdateien in den Messenger-Diensten KIK, Skype und vor allem über qtox aus und fantasierte in Eins-zu-Eins-Gesprächsforen über neue Quälereien an Jungen und Mädchen. Meist handelte es sich um Kleinkinder oder Säuglinge.

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Video: Kölner Polizei zum NRW-Missbrauchskomplex

Per Messenger-Anbieter qtox, der sich angesichts „ausweitender großflächiger Überwachungsprogramme durch einige Regierungen einer sicheren Kommunikation für jedermann“ rühmt, instruierte Marcus R. seinen Bekannten, wie er sich beispielsweise im Berliner Tierpark an einem kleinen Jungen vergehen sollte. Über zweieinhalb Jahre hinweg sollen die beiden Männer sich nach Ermittlungen der Polizei immer wieder neue perverse Praktiken ausgedacht haben.

Zudem tauschte man selbst gemachte Videos und Bilder von den jeweiligen Opfern aus. Zeitweilig fürchtete Sönke G., dass die Strafverfolger ihm auf die Spur kommen könnten, weil er auf den  Missbrauchs-Clips zu erkennen sei. Doch sein Kumpel aus NRW beruhigte ihn mit dem Hinweis, dass er das zugesandte Material nie weitergeben und außerdem verschlüsseln werde.

Besonders an behinderten Jungen interessiert

Nach Auswertung von zehn Prozent der in Wermelskirchen bei dem Haupttäter sichergestellten Missbrauchsdaten konnten bereits zwölf geschädigte Kinder identifiziert werden. Am 27. Februar 2019 etwa besuchte Marcus R. seinen Mitstreiter in Berlin. Der überließ dem IT-Profi einen seiner kleinen Schützlinge, um sich an ihm zu vergehen. Besonders erregte die beiden Männer, dass der behinderte Junge eine Windel tragen musste.

Die Taten wurden bekannt, als der Berliner Komplize ins Krankenhaus kam. Dort wurden auf seinem Handy Missbrauchsdateien entdeckt. Nach einem anonymen Hinweis nahm das Landeskriminalamt den 28-Jährigen am 4. August 2021 fest. Nach und nach durchforsteten die Ermittler das perfide Netzwerk des Beschuldigten. Vor fünf Jahren richtete der Lichttechniker demnach ein Profil auf einer privaten Plattform für Kinderbetreuung ein. „Im Grunde möchte ich einfach gerne meine Fähigkeiten, gut mit Kindern umzugehen, anbieten“, schrieb er dort nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Kinder auch über gemeinnützige Vermittlungsstellen angelockt

Auf einer weiteren Babysitter-Seite warb der Pädokriminelle mit seiner Erfahrung durch etliche Praktika in Kindertagesstätten. Er wolle „Familien unterstützen, ein möglichst entspanntes Familienleben zu habe“, ergänzte er laut t-online. Der Stundenlohn von Sönke G. betrug nur fünf Euro. Etliche Eltern fielen vielleicht auch deshalb auf das Angebot herein.

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Die Kölner Ermittler gehen von einem der größten Missbrauchs-Fälle aus.

Weiter stellte sich heraus, dass G. seine Dienste auch über eine gemeinnützige Vermittlungs-GmbH für behinderte Kinder anbot. Und er soll Betreuungsangebote von zwei Berliner Bezirksämtern bekommen haben. Vor allem behinderte Jungen regten seine Fantasien an, ließ er seinen Bekannten in Wermelskirchen per Chat wissen. Denn Sönke G. entwickelte eine Art sexuellen Fetisch. Er brach in eine Kindertagesstätte ein, um dort Windeln zu stehlen.

Als die Polizei ihn dort stellte, versuchte er sogar, seine Beute mit einer Schusswaffe zu verteidigen. In der anschließenden Gerichtsverhandlung wegen des Einbruchs kam er mit einer minimalen Strafe davon. Seine Neigungen spielten im Prozess keine Rolle. Erst nachdem er im Krankenhaus wieder verhaftet und seine Taten offenbar wurden, verurteilte ihn das Landgericht Berlin Anfang Mai zu einer zwölfjährigen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung.

Durch Reisedaten auf Wermelskirchener Täter gestoßen

Im Laufe der Ermittlungen identifizierte eine Sonderkommission des Berliner Landeskriminalamtes über das riesige, beschlagnahmte Datenkonvolut im Laptop des Missbrauchstäters Komplizen und Chatpartner. Obwohl die meisten Kontaktpersonen per Aliasname oder Kürzeln mit ihm kommuniziert hatten, gelang es den Ermittlern auch, eine auffällige falsche Personalie zu entschlüsseln. Der Mann agierte unter dem Synonym „Jan“.

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Und aus den Chatverläufen ging hervor, mit welchen Flügen er zu seinem Mittäter in die Hauptstadt gereist und in welchen Hotels er abgestiegen war. Auf diese Weise identifizierten die Kripo-Beamten durch die Reisedaten mehrere „Kreuztreffer“, die schließlich nach Wermelskirchen zu Marcus R. führten, der ebenfalls mit der Babysitter-Masche neue Opfer köderte.

Wie sich inzwischen herausstellte, hätte man den mittlerweile geständigen Pädokriminellen womöglich früher fassen können. Bei Ermittlungen zu einem großen Missbrauchskomplex in Münster hatte die Polizei seinen Kontakt zur Schlüsselfigur in dem Fall ausgemacht. Da Markus R. aber unter einem Aliasnamen agierte, konnten die Ermittler ihn damals nicht identifizieren, teilte die Münsteraner Polizei auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ mit.

Der Täter hätte womöglich früher gefasst werden können

Dieser Umstand ist aber vor allem der Rechtslage geschuldet. Die Chats fanden im Münsteraner Fall meist verschlüsselt über den Messengerdienst „Wire“ statt. Als die NRW-Behörden per Rechtshilfeersuchen bei dem Schweizer Betreiber des Dienstes die IP-Adresse erbaten, um den unbekannten Komplizen ausfindig zu machen, waren diese Daten nicht mehr vorhanden. 

Nach wie vor müssen Telekommunikations-Dienste keine Account-Daten ihrer Kunden vorhalten. Manche Unternehmen speichern diese Daten allerdings bis zu einer Woche. Spätere Anfragen der Sicherheitsbehörden führen ins Nichts. Durch die Anfrage in der Schweiz erhielten die Ermittler aber wenigstens eine E-Mail-Adresse, mit der der Tarnname angemeldet worden war.

Die Hoffnung der Ermittler auf eine heiße Spur aber war schnell verpufft. Der E-Mail-Anbieter existierte zwischenzeitlich nicht mehr, so dass auch keine weiteren Informationen zu dem Mann mit dem Tarnnamen zu erhalten waren, heißt es im nordrhein-westfälischen Innenministerium.

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