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Anklage wegen zweifachen MordesGutachter empfiehlt Jugendstrafrecht für Raser

Lesezeit 4 Minuten
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Der Angeklagte Mert T. (m.) während des Prozesses in Stuttgart

Stuttgart/Neuss – Für den 20-jährigen mutmaßlichen Todesraser von Stuttgart, der seit dem vergangenen Mittwoch vor Gericht steht, scheint eine Verurteilung zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen zweifachen Mordes wenig wahrscheinlich.

Dies legt nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ das vorläufige Gutachten eines Kinder- und Jugendpsychiaters nahe, der den Heranwachsenden Mert T. untersucht hat. Demnach empfiehlt der Gerichtsgutachter, bei dem Angeklagten das Jugendstrafrecht anzuwenden. Im Gegensatz zum Erwachsenengesetzeskatalog beträgt hier die Höchststrafe zehn Jahre.

Angeklagter als „Nesthäkchen“ beschrieben

Zur Begründung weist der Gutachter daraufhin, dass der Deutsch-Türke Mert T. äußerst eng an die Mutter gebunden sei und sich nicht altersgerecht verhalte. Er sei das Nesthäkchen, das jüngste Kind. Das Baby, das sich noch nicht aus dem engen Familienbund lösen konnte, um sich auf eigene Füße zu stellen. In türkischen Kulturkreisen, führt das Gutachten an, gelten andere Sitten, als in deutschen Familien. Durch die Protzereien mit Autos und toller Kleidung habe der angehende Mechatroniker versucht, erwachsen zu erscheinen.

Tatsächlich aber stellt er aus Sicht des Analytikers genau das Gegenteil dar. Das Rasen mit einem teuren Wagen, der Geschwindigkeitsrausch, das Überschreiten aller Verkehrsregeln könnte demzufolge ein Ausdruck seines Wunsches nach Selbstständigkeit gewesen sein. Trotz einiger Auffälligkeiten in der Persönlichkeit hält der Psychiater den Angeklagten für voll schuldfähig.

Anklage wegen zweifachen Mordes

Seit Mittwoch muss sich der 20-jährige Azubi vor der Jugendstrafkammer in Stuttgart nach seiner Todesfahrt im März wegen zweifachen Mordes verantworten. Seinerzeit soll der junge Autonarr mit einem gemieteten Jaguar mit 550 PS durch das Stuttgarter Bahnhofsviertel gerast sein, um seinen Freunden zu imponieren. Bei seiner letzten Fahrt kurz vor Mitternacht verlor er mit 168 Stundenkilometern in der City die Kontrolle über sein Fahrzeug und knallte in einen Kleinwagen.

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Die Szene des Unfalls im März: Ein junges Paar aus Neuss kam dabei ums Leben.

Für die beiden Insassen, Riccardo K., 25, und Jaqueline B., 22, die erst vor Kurzem aus Neuss in die Landeshauptstadt gezogen waren, kam jede Hilfe zu spät. Sein Verteidiger hat den Mordvorwürfen am ersten Verhandlungstag widersprochen.

Eine psychiatrische Prognose zur Frage der Reife von Angeklagten im Heranwachsenden-Alter zwischen 18 und 21 ist bei Strafprozessen durchaus üblich. Der Gutachter wird wohl zum Prozessende abschließend Stellung zur Persönlichkeit des Angeklagten nehmen. Letztlich muss das Gericht darüber entscheiden, nach welchem Strafrechtskatalog Mert T. abgeurteilt wird.Christoph Arnold, Anwalt der Eltern der getöteten jungen Frau, zweifelt indes die Einschätzung des Gutachters an. „Das Verhalten des Angeklagten vor, während und nach der Tat deutet aus meiner Sicht nicht auf das eines Jugendlichen hin.“

Gas voll durchgedrückt

Zunächst hatte der Beifahrer des Angeklagten am ersten Verhandlungstag bekundet, dass er seinen Freund gebeten habe, „es nicht zu übertreiben.“ Mert T. hatte sich nicht darum geschert, sondern soll den Fuß aufs Gas gedrückt haben und mit knapp 170 Sachen durch die Tempo-50-Zone gerast sein. Den Angeklagten bezeichnete der damalige Beifahrer als psychisch, labilen „Internetposer“.

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Ein weiterer Zeuge berichtete, dass der Angeklagte sich direkt nach dem tödlichen Unfall keinen Deut um die Opfer gekümmert habe, sondern sich als erstes bei seinem Autovermieter via Handy erkundigte, ob denn der Fahrzeugschaden von der Versicherung übernommen würde.„Und dann soll er in der Nacht nach der Todesfahrt seine Freunde aufgefordert haben, entsprechende Videobeweise von ihren Handys zu löschen“, erklärt Anwalt Arnold, „dies deutet nicht daraufhin, dass da ein unreifer Jugendlicher gehandelt hat“.

Die Staatsanwaltschaft schreibt in ihrer Anklage, dass die Polizei es „leider versäumte, das Smartphone des Angeschuldigten sofort nach der Tat sicherzustellen.“ Folglich habe der Angeklagte bewusst veranlasst, dass Beweise vernichtet worden seien, die seine Fahrweise dokumentiert hätten. Mert T. hat dies gegenüber dem psychiatrischen Gutachter bestritten.

Raser-Videos auf Instagram gelöscht

Die Ermittler aber stellen zum „Nachtatgeschehen“ Folgendes fest: Ab 2.16 Uhr in der Nacht nach dem Unfall soll der Lehrling auf seinen Instagram-Account alle eingestellten Videos von seinen Spritztouren gelöscht haben. Kurz nach drei Uhr erreichte Mert T. seinen letzten Beifahrer und wies ihn an, sich um die Beseitigung der anderen Clips von den Jaguar-Trips zu kümmern.

Umgehend gab der Freund bei den anderen Mitgliedern einer gemeinsamem Chat-Gruppe folgende Losung aus: „Jungs jeder soll die Videos vom Auto löschen.“ Und so soll es auch geschehen sein. Manche Clips konnte die Kripo wiederherstellen.

Anwalt Arnold will ferner nicht in den Kopf, warum „18-Jährige bereits Auto fahren dürfen und somit als Erwachsene gelten und im Strafrecht können sie noch als Jugendliche behandelt werden“.

Der Angeklagte hat vor Prozessbeginn an die Eltern beider Opfer einen kurzen Brief aus der Untersuchungshaft geschrieben, in dem er zutiefst bereut, was er angerichtet hat. Nach seinen Worten plagen ihn große Schuldgefühle. Tag für Tag müsse er an die Geschehnisse denken. Im Prozess hat Mert T. allerdings bisher geschwiegen und seine Verteidiger für sich reden lassen.