Nach 36 JahrenClaudia Seydhold verlässt den Verein „Die Kette“ aus Bergisch Gladbach

Lesezeit 5 Minuten
Porträt Claudia Seydholdt, sie sitzt am Tisch und blickt in die Kamera. Neben ihr steht eine blaue Pferde-Figur.

Claudia Seydholdt fing bei „Die Kette“ mit drei Mitarbeitenden an.

Die Vorständin Claudia Seydholdt verlässt nach 36 Jahren den Verein „Die Kette“ und blickt auf ihre Lebensleistung zurück.

„Ich brauche Bewegung. Ich muss was auf den Weg bringen“, fasst Claudia Seydholdt ihre Lebenseinstellung zusammen. Das hat sie getan, 36 Jahre lang, davon 34 in leitender Position, hat sie sich beim Verein „Die Kette“ für psychisch Kranke eingesetzt. Als sie begann, waren sie zu viert, heute sind sie über 1200 Mitarbeiter. Nun geht die engagierte Vorständin in den Ruhestand.

Gemeindepsychiatrie – nah vor Ort und am Menschen

Eine Klinik, in der sie nie gewusst hätte, was aus den Patienten wird, kam für Claudia Seydholdt nie in Frage. Die Gemeindepsychiatrie ist ihr „Ding“ – nah vor Ort und nah am Menschen. So stößt die Burscheiderin 1987 nach ihrem Psychologiestudium auf den noch jungen Verein „Die Kette“.

„Doch dort brauchten sie keine Psychologin, sondern jemanden, der Auto fahren kann“, erzählt sie. Sie steigt ein und übernimmt ehrenamtlich Fahrdienste zu den betreuten Gruppen. Ein Jahr später erhält sie eine ABM-Stelle. Noch ein Jahr später wird sie Geschäftsführerin mit drei Mitarbeitern.

Im Mittelpunkt steht immer die Frage: Was brauchen die Menschen?

„Ich habe nicht angefangen mit der Idee, Chefin zu werden“, sagt sie. „Ich wollte mit psychisch kranken Menschen arbeiten.“ Mit Menschen, die häufig keine sozialen Kontakte haben; die ohne Hilfe nicht alleine leben können; die wegen einer Depression jahrelang nicht das Haus verlassen; die manisch Haus und Grund verscherbeln – die Palette der psychischen Krankheiten ist groß und bunt. „Mich interessierte schon immer die Vielfalt an Umständen und eigenem Erleben“, beschreibt Seydholdt ihre Motivation.

Doch auch die Rolle als Chefin liegt ihr. „Es gab nicht viel im Kreis, es war ein weites Feld für Ideen“, sagt sie. Und bei jeder Idee steht für sie die Frage im Mittelpunkt: Was brauchen die Menschen? Claudia Seydholdt stürzt sich in die Arbeit. Unter ihrer Leitung entsteht aus der kleinen engagierten Organisation ein großer engagierter Betrieb: Beratungsstellen, Tagesstätten, Wohnheime; Leistungen für Junge, für Ältere und für Familien; Prävention, Begleitung – zu viel, um es hier auch nur annähernd aufzählen zu können.

Seydholdt: „Psychisch krank heißt nicht, dass man dumm ist“

1995 eröffnet der erste Inklusionsbetrieb der Kette, in dem zwölf psychisch Kranke in den Bereichen Hauswirtschaft, Catering und Renovierung arbeiten. Heute sind rund 600 Menschen in den Inklusionsbetrieben angestellt. „Psychisch krank heißt nicht, dass man dumm ist“, sagt Seydholdt. „Es kann jeden erwischen, dass er in eine Krise rutscht. Das machen sich viele nicht klar.“

Psychisch erkrankte Menschen als Teil der Gesellschaft sehen

Nicht zuletzt deshalb ist es eines ihrer größten Anliegen, Gemeindepsychiatrie nach außen zu tragen. Mit Vernetzung, mit Veranstaltungen oder auch mit dem hauseigenen Magazin „Einblick“, das genau das vermittelt, was der Name verspricht, holt Claudia Seydholdt psychisch erkrankte Menschen ins Licht. Sie arbeiten bei Kunden, sprechen bei Festen ins Mikrofon, gehen beim Karnevalszug mit, erzählen in Schulen, wie sich ihre Krankheit anfühlt, wohnen dort, wo andere auch wohnen.

Es muss auch Leute geben, die diese Themen in Politik und Verwaltung transportieren.
Claudia Seydholdt

„Sie wollen Teil der Gesellschaft sein, nicht nur krank“, sagt Seydholdt. Stetig baut sie für dieses Ziel ihr Netzwerk aus: mit Angehörigen, Ärzten, Betreuern, Fachkliniken, sozialen Institutionen und Akteuren des Arbeitsmarkts; ist Vorständin im Dachverband der Gemeindepsychiatrie. „Es muss auch Leute geben, die diese Themen in Politik und Verwaltung transportieren“, sagt sie – und tat es selbst 31 Jahre als Mitglied des Kreistags, 19 davon als stellvertretende Landrätin.

Nicht ein einziges Mal habe sie überlegt, den Job zu wechseln. „Ich hatte Glück mit der Zeit“, sagt sie. „Beim Aufbauen haben Sie halt viel mehr Möglichkeiten als wenn Sie etwas bewahren müssen.“ Es habe ihr einfach Spaß gemacht. Immer. Vor allem die Menschen. „Die Menschen sind doch das Wichtigste, was wir haben“, sagt sie und lächelt.

Und nun, Frau Seydholdt?

Nun freue sie sich darauf, dass sie ins Bett gehen könne, wann sie wolle, und schlafen, solange sie möchte; auf ihre Freunde, Konzerte, ihren großen Garten am Fachwerkhaus und auf die Recherche nach Wohnalternativen im Alter.

Am Freitag, 16. Juni, wird sie im Theas Theater offiziell verabschiedet. Doch sie wird ihre Nachfolgerin Ursula Meeth noch bis August einführend begleiten. „Sie ist engagiert, sie hat ein Netzwerk, sie kann Dinge aufbauen, und sie wird sich gut mit meiner Vorstandskollegin verstehen“, sagt Seydholdt. Daher könne sie gut loslassen.

Sie will Mitglied bleiben, aber nicht in den Aufsichtsrat. „Das wäre ja schrecklich, auch für meine Nachfolgerin“, sagt sie. „Es geht doch darum, die Perspektive zu wechseln, etwas Neues zu machen, Dinge weiterzuentwickeln.“ Auch im Abschied bleibt sich Claudia Seydholdt treu.


Die Kette e.V.

Der Verein „Die Kette“ wurde 1984 auf Initiative der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft des Kreises gegründet, um Menschen mit einer psychischen Behinderung Unterstützung zu bieten, die es bis zu diesem Zeitpunkt nicht gab.

Heute bietet der Verein ein breites Angebot an Hilfen für Menschen mit Behinderung oder gesundheitlichen Einschränkungen in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Tages- und Freizeitgestaltung.


Das blaue Pferd

Jeder Mitarbeiter der Kette erhält ein blaues, im italienischen Triest getöpfertes Pferd. Es steht als Symbol für die Philosophie der Kette und ihrer Vorständin Claudia Seydholdt.

Die Geschichte: Bis in die 70er-Jahre hinein wurden in vielen Ländern Europas Menschen mit einer psychischen Erkrankung außerhalb der Gesellschaft weggesperrt. In einer Großeinrichtung in Triest lebten 1200 Menschen vollkommen abgeschottet. „Marco Cavallo“, das Pferd, das Schmutzwäsche und Abfälle aus der Anstalt beförderte, war einer der wenigen „Bewohner“, der die Mauern regelmäßig verlassen durfte.

"Die Kette", Fassadengestaltung Perspektivhaus.

Das blaue, im italienischen Triest getöpferte Pferd steht als Symbol für die Philosophie der Kette.

Als die Anstalt 1973 geschlossen wurde, bauten Patienten, Pfleger und Künstler ein blaues Pferd aus Pappmaché und schoben es gemeinsam aus dem Gelände. Das Pferd stand für die Rückkehr ins normale Leben. Es war der Appell für eine andere Psychiatrie. „Nach fast 50 Jahren haben mittlerweile viele Menschen mit psychischen Erkrankungen sehr gute Möglichkeiten für ein Leben mitten in der Gesellschaft“, sagt Seydholdt. „Doch der Weg zu einer vollständig gleichberechtigten Teilhabe ist noch nicht zu Ende.“

KStA abonnieren