Traum erfülltOdenthaler Stefan Wiemer wandert 30 Tage lang allein über die Alpen

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Stefan Wiemer mit Kapuze in den verschneiten Bergen.

Früher Wintereinbruch in den Alpen: Eine Tour der Gegensätze.

420 Kilometer vom Königssee in Bayern bis zum Gardasee in Italien - diesen Traum erfüllte sich der Odenthaler Alphornbläser.

Das Alphorn passte beim besten Willen nicht mehr in den Rucksack. Und so musste es in Odenthal bleiben, obwohl es sich vermutlich heimisch gefühlt hätte, bei der Wanderung, die Stefan Wiemer unternommen hat. Vom bayerischen Königssee zu Fuß zum italienischen Gardasee – abseits der viel begangenen Route, das war der Traum, den sich der Odenthaler, der im Bergischen als Alphornbläser bekannt ist, erfüllen wollte.

30 Tage lang war er unterwegs, ganz allein auf sich gestellt, ein Abenteuer, von dem er selbst zunächst nicht wusste, ob er es durchhalten würde. Zwar ist der 58-Jährige, der beruflich gerade ein Sabbatjahr einlegt, Alpen-Fan und wandert seit 40 Jahren auch anspruchsvolle Touren, hat auch schon Wandergruppen geführt, doch Zweifel nahm er trotzdem mit auf den Weg: „Wie komme ich mit dem Alleinsein klar?“ Und: „Macht der Körper das mit?“, fragte er sich vor Beginn der rund 420 Kilometer langen Route mit strapaziösen 24.000 Höhenmetern.

Ein Biwak-Sack für den Notfall im Gepäck

Entsprechend aufwendig war die Vorbereitung für die Strecke, die eben nicht dem frequentierten Weg E5 von Oberstdorf nach Meran folgen sollte, sondern weniger ausgetretene Pfade nutzte. Daher hatte Wiemer einen Biwak-Sack im Gepäck, um notfalls auch eine Nacht ohne Berghütte zu überstehen, wenn in den Bergen die Temperaturen im September auch schon mal in den frostigen Bereich absinken können. Eine weise Entscheidung, wie sich später herausstellen sollte.

Und auch starke Schmerzmittel packte der Odenthaler in seinen Rucksack: „Wenn ich mir beispielsweise den Knöchel umgeschlagen hätte, dann wären die Tabletten vielleicht nötig gewesen, um mich noch irgendwo hinschleppen zu können.“ Denn die Route von Stefan Wiemer war einsam: „Oft bin ich den ganzen Tag keinem Menschen begegnet“, erzählt er nach glücklicher Rückkehr. Wohl aber einer faszinierenden Bergwelt und interessanten Begegnungen am Abend in den Hütten.

Verzweifelte Suche nach einem trockenen Heuschober

Nur einmal, in einer besonders abgelegenen Gegend, da hat Stefan Wiemer Pech: Die Hütte, die er eigentlich als Nachtlager gewählt hatte, ist schon voll belegt, kein Schlafplatz mehr zu ergattern. Da hatte er schon 1.000 Höhenmeter Abstieg zu einem See und wieder 1.000 Höhenmeter hinauf zur Hütte in den Waden.

„Umkehr war keine Option, aber in 2.100 Meter Höhe gehen die Temperaturen nachts schon auf null Grad runter“, erklärt Wiemer, warum ihm mittlerweile etwas unwohl wurde bei dem Gedanken, dass die Sonne bald untergehen würde. Ein geschützter Unterstand, ein Heuschober oder ähnliches musste her.

Eine malerische Bergalm mit Holzhütte.

Einsam war der Weg, den Stefan Wiemer für seine Alpenüberquerung wählte.

Schließlich, „auf einer wunderschönen Alm, auf der die Sonne fast kitschig unterging“, so Wiemer, stand doch noch eine Hütte. Die hätte seine Rettung sein können, wäre hier nicht just am Tag zuvor die Saison beendet worden. Das Haus war dicht. „Ich bin dann ringsherum, um zu schauen, ob die Hütte vielleicht einen Winterraum für Notfälle hat“, erinnert sich Wiemer. Den hatte sie nicht, dafür aber einen unverschlossenen Flur. „Da wäre ich wenigstens für die Nacht geschützt gewesen.“

Die Alpen sind wieder Wolfsgebiet

Nicht nur vor der Kälte, auch vor anderen Gefahren. Denn die Alpen sind mittlerweile auch wieder ein Wolfsgebiet und — auch wenn es sehr unwahrscheinlich sei, einem Exemplar zu begegnen — in den Dolomiten leben auch wieder Bären. Schließlich fand sich aber ein windschiefer Heuschober mit fester Tür und – in einer Ecke – einige alte Metallbettroste. „Da wusste ich, das ist meine Hütte“, sagt Wiemer und lacht. „Dazu Wasser aus einer nahen Quelle, ein Stück Schokolade, ein Apfel und ein Stück Salami – das hat gereicht“.

Stefan Wiemer erreicht nach seiner Wanderung Bozen.

Nach 30 Tagen fast am Ziel: Blick auf Bozen.

Wölfen und Bären war das wohl zu wenig, dafür traute sich ein Fuchs am Morgen bis auf wenige Meter heran. „Es ist schon ein seltsames Gefühl, wenn man weiß, man ist jetzt völlig allein. Der nächste Mensch ist vielleicht zwei oder drei Stunden entfernt“, schildert Wiemer.

Am nächsten Morgen ging es weiter, doch dann plötzlich wurde es immer schwieriger, den Weg zu finden. „Nach der Karte war ich richtig, aber da war kein Weg mehr“, erinnert sich der 58-Jährige. Inzwischen zieht schlechtes Wetter auf, der Hang wird immer steiler. „Runter ist dann immer richtig. Aber wo?“, rätselte Wiemer.

Ein Erdrutsch hatte den Wanderweg verschüttet

Dann hörte er ein Geräusch: „Plötzlich, mitten im Nirwana, kamen mir zwei riesige Bagger entgegen.“ Die waren gerade dabei, den vor zwei Jahren bei einem Erdrutsch verschütteten Weg wiederherzustellen. „Noch nie war ich so glücklich, Bagger zu sehen“, lächelt Wiemer noch heute.

Und so machte er ungewollt ganz ohne Einweihungsfeierlichkeiten die Erstbegehung des schon fertiggestellten Teilstücks des Wanderweges. „Unten im Tal waren dann überall Warnschilder und Absperrungen“, amüsiert er sich. Nur oben im Berg, da habe völlige Ahnungslosigkeit geherrscht.

Auch das Wetter hatte Wiemer immer im Blick. „Ein plötzlicher Schneeeinbruch oder Nebelwände können kritisch werden.“ Tage der Gegensätze: Auf dem Alpenhauptkamm sorgte eine Schlechtwetterfront für eine dreitägige Zwangspause. Wiemer stapfte durch Schnee und macht nur wenig später an einem malerischen See fast einen Badeurlaub.

Braun gebrannt und acht Kilo leichter, kommt der Odenthaler nach 30 Tagen in Bozen an. Wiemer: „Beim Abstieg in die Stadt, die auch eine Industriestadt ist, mit viel Gestank, Lärm und Autos, da habe ich gemerkt: Hier ist meine Tour zu Ende.“

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