Zuversicht und WehmutAutozulieferer Scharrenbroich schließt nach 94 Jahren

Der letzte Tag: Nach 94 Jahren hat Scharrenbroich dicht gemacht. Die Mitarbeiter nahmen Abschied.
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Overath – „Wir sind Facharbeiter. Wir werden doch gesucht“, sagt Rüdiger Scherwinski. Der 55-Jährige klingt melancholisch, trotzig und entschlossen zugleich. Auf seinem Smartphone, das an eine große Lautsprecherbox angeschlossen ist und die wiederum die Halle beschallt, in der die Scharrenbroich-Mitarbeiter ihren Getränkevorrat gestapelt haben, sucht er gerade nach etwas fröhlicherer Musik als dem ebenfalls melancholisch klingenden Lied von Volkssänger Andreas Gabalier, das gerade läuft.
Investitionsstau war einfach zu groß
Es ist Freitagnachmittag, vier Tage vor Heiligabend, und die versammelten Arbeiter und Angestellten müssen heute Abschied nehmen: Abschied von ihren Arbeitsplätzen und Abschied von ihren Kollegen. Am (beinahe) kürzesten Tag des Jahres geht bei Scharrenbroich 94 Jahre nach der Gründung das Licht aus. Der Investitionsstau sei einfach zu groß gewesen, sagt Insolvenzverwalter Klaus Siemon. Die Familie Scharrenbroich, die die Firma vor zwei Jahren an einen kanadischen Investor verkauft hat, möchte sich zu den wirtschaftlichen Aspekten der Unternehmensschließung nicht äußern.

Die Ex-Eigentümer Karl und Marlene Scharrenbroich.
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Im Jahre 1925 von Großvater Karl Scharrenbroich gegründet, haben bis zuletzt knapp hundert Menschen an den beiden Standorten hinter dem Overather Bahnhof und in Vilkerath für das Unternehmen gearbeitet. Es muss ein schönes Miteinander im dem mittelständischen bergischen Industriebetrieb gewesen sein. Der Satz „Wir waren hier wie eine Familie“ ist an diesem Freitag kurz vor Sonnenuntergang immer wieder zu hören, ob man nun den langjährigen Betriebsratsvorsitzenden Jesus del Olmo (56) fragt oder seine Kollegin Esen Gürlek (58) aus der Produktion, den Springer Ali Teke (43) oder Muhammet Tanrikulu (29), der während seines Lehramtsstudiums in der Fertigung zunächst gejobbt hat und dann geblieben ist.
Ehemaliger Chef Karl Scharrenbroich zu tiefst betroffen
Die Leute bei Scharrenbroich sind gut organisiert gewesen, wenn die IG Metall früher zum Streik aufrief, standen alle Räder still. Dem Klima im Betrieb scheint das keinen Abbruch getan zu haben: Auch der frühere Chef Karl Scharrenbroich (83), Sohn des Unternehmensgründers, und seine Ehefrau Marlene sind an diesem Nachmittag bei ihren Leuten. „Es ist sehr traurig, was hier passiert“, sagt Karl Scharrenbroich. „Wir kennen uns hier alle, sind eine große Gemeinschaft“, sagt Esen Gürlek aus Engelskirchen-Loope. 25 Jahre lang hat sie hier gearbeitet, zuletzt in der Schleiferei. „Es ist sehr bitter.“
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Ismail Barut (24) aus Overath ist erst seit dreieinhalb Jahren in der Produktion tätig gewesen. „Ich weiß noch nicht, was ich machen werde“, sagt der Junggeselle: Ob er im Rheinland bleibt oder nach Frankfurt wechselt, wo Verwandte leben. Esengül Kömürcü (41), ebenfalls aus Overath, hat als Industriekauffrau gearbeitet. Um ihre Zukunft macht sie sich wenig Sorgen: „Ich bin vielfältig einsetzbar, könnte auch bei einem Insolvenzverwalter arbeiten“ – das hat sie nämlich die letzten Monate bei Scharrenbroich schon getan.
Zukunft für viele Angestellte ungewiss
Am Ende dieses letzten Tages weiß beileibe noch nicht jeder, wie es nun für ihn weitergeht. Die Gewerkschaft hat eine Transfergesellschaft für sie ausgehandelt, viele Bewerbungen sind schon geschrieben, und die Agentur für Arbeit rät zur Zuversicht: „Gute Leute werden immer gebraucht.“ Das Betriebsgelände ist bereits verkauft, hinter dem Bahnhof soll nun Wohnungsbau entstehen, sozial verträglich und ökologisch ausgerichtet, wie der Overather Investor Wolfgang Michels angekündigt hat.
Die alten Scharrenbroich-Leute haben an diesem Abend gute Vorsätze: „Wir haben uns alle vernetzt, und wir wollen uns auf jeden Fall einmal pro Jahr treffen“, sagt Rüdiger Scherwinski, der DJ mit dem Smartphone, und lächelt.