Yuliia Radchenko musste nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine ihre Heimat verlassen. Im Artikel schildert sie ihre Erlebnisse.
„Yuliia, der Krieg hat begonnen!“Ukrainische Geflüchtete aus Erftstadt erzählt ihre Geschichte

Yuliia Radchenko ist Praktikantin in der Rhein-Erft-Redaktion und erzählt ihre Geschichte.
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Während ihres Praktikums in der Redaktion des Kölner Stadt-Anzeigers/Rhein-Erft Rundschau entstand mit ihren Kolleginnen und Kollegen die Idee, dass die 23-Jährige ihre Geschichte aufschreiben könne. Dabei herausgekommen ist ein berührender Text, der mehr als drei Jahre nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine veranschaulicht, welches Leid, welche Schmerzen und welche Ängste Millionen Menschen in der Ukraine, aber auch diejenigen, die wie Yuliia Radchenko geflüchtet sind, durchleben.
„Yuliia, der Krieg hat begonnen!“Mit zittriger Stimme sprach meine Mutter diese Worte am Morgen des 24. Februar 2022 ins Telefon. Ich lag noch im Bett meines Zimmers im Studentenwohnheim in Odessa. Es war mein erster Urlaubstag nach einer stressigen Zeit im Hotel, in dem ich gearbeitet hatte. Am Abend zuvor hatte ich meinen Eltern noch gesagt: „Bitte ruft mich nicht an, ich will endlich ausschlafen.“
Doch an diesem Morgen wurde ich schon um 5 Uhr von lauten Geräuschen geweckt. Zuerst dachte ich, es sei ein Feuerwerk – mein Wohnheim lag nicht weit von Arkadija, dem Ausgehviertel am Meer, wo es oft laut zuging. Aber irgendetwas fühlte sich anders an. Ich drehte mich noch einmal um und schlief wieder ein.
Russischer Überfall fühlte sich für Yuliia Radchenko nicht real an
Eineinhalb Stunden später klingelte das Telefon, und meine Mutter sagte den Satz, der mein Leben für immer veränderte. Ich sollte meine Sachen schnell einpacken, weil mein Papa mich gleich abholen würde. Ich wusste nicht, was ich mitnehmen sollte und stopfte nur das Nötigste in meinen Koffer. Als wir durch die fast leeren Straßen nach Hause fuhren, hatte ich ein Gefühl von Angst, das ich bis dahin nicht kannte.
Nachdem wir zu Hause angekommen waren, gingen mein Vater und ich in den Supermarkt und in die Apotheke. Die Regale waren erschreckend leer – so etwas hatte ich nicht einmal während der Corona-Pandemie erlebt. Während ich allein in der Schlange in der Apotheke stand, hörte ich plötzlich eine Explosion und sah schwarzen Rauch am Himmel.
In diesem Moment wurde mir klar: Das ist kein Traum, das ist Realität.
Die ukrainische Familie blieb zunächst Zuhause und schlief im Flur
Im Fernsehen sahen wir die Bilder von Tankstellen mit endlosen Schlangen. Gleichzeitig wurde berichtet, dass die meisten Städte unter Beschuss standen. Wir sahen, dass am Bahnhof und in den Zügen Gedränge herrschte, die Menschen versuchten, sich in die Waggons zu drängen – oft sogar ohne Koffer und Gepäck. Hauptsache, nur weg.
Die Waggons der ukrainischen Bahn Ukrsalisnyzja (vergleichbar mit der Deutschen Bahn in Deutschland) waren so überfüllt, dass die Menschen dicht auf dem Boden saßen oder sogar gedrängt standen. Es war reine Panik, begleitet von Angst und der Erkenntnis, dass kein Ort in der Ukraine wirklich sicher war.
Deshalb entschieden wir uns zunächst, die Stadt nicht zu verlassen und nicht zu den Verwandten in die Westukraine zu fahren. So blieben wir fast zwei Wochen lang zu Hause. In diesen zwei Wochen schliefen wir meistens auf einer Matratze auf dem Boden im Flur, dem „sichersten“ Ort in unserer Wohnung.
Wir hielten uns an die sogenannte „Vier-Wände-Regel“: Man bleibt in einem abgeschlossenen Raum, möglichst ohne Fensterkontakt, um sich vor herabfallenden Trümmern zu schützen. Einen richtigen Luftschutzbunker gab es bei uns nicht, deswegen haben wir es halt so gemacht und im Flur geschlafen . . .
Der Vater überzeugte die Familie, Odessa zu verlassen
Eines Tages überzeugte mein Vater schließlich meine Mutter, es wenigstens zu versuchen, den Zug zu nehmen. Noch am selben Abend fuhren wir durch die fast leeren Straßen zum Bahnhof. Zum ersten Mal sah ich dort bewaffnete Soldaten.
Meine Mutter und ich hatten großes Glück: Der Zug war nicht völlig überfüllt, für uns wurde ein Platz gefunden und wir konnten nach Ternopil fahren. Aber mein Vater blieb in Odessa. In dieser Nacht im Zug hatte ich nur einen Gedanken, der immer wieder durch den Kopf ging: „Sei nicht traurig, Papa, wir kommen bald zu dir zurück.“

Yuliia Radchenko und ihre Eltern.
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Ach, wenn ich nur gewusst hätte, dass es nicht so bald enden würde.
In Ternopil zogen meine Mutter und ich zwischen verschiedenen Verwandten hin und her. Wir hatten dort sowohl Verwandte als auch die Eltern meiner Mutter – und eigentlich bin ich selbst in Ternopil geboren. So wechselten wir von einem Haushalt zum anderen, je nachdem, wo es gerade möglich war. Meine Universitätskurse liefen weiter, aber nur noch online.
Im April holte mein Vater meine Großmutter aus dem von russischen Truppen besetzten Nowa Kachowka ab. Damals wurden sogenannte „Grüne Korridore“ eingerichtet, durch die man die besetzte Region verlassen konnte. Ich weiß, dass diese Korridore nur wenige Tage später eingestellt wurden und Kolonnen von Autos mit Erwachsenen und Kindern, die diese Zone verlassen wollten, erschossen wurden.
35-stündige Reise von Ternopil nach Köln
Mein Vater hatte uns von Anfang an geraten, nach Deutschland zu gehen, da ein Bekannter von ihm uns helfen konnte. Meine Mutter war zunächst dagegen, und auch ich wollte nicht weg. Wir hofften, dass der Krieg bald vorbei sein würde und wir nach Odessa zurückkehren könnten. Schließlich überzeugte der Bekannte meines Vaters meine Mutter, dass wir fahren sollten, und so kamen wir am 26. Juni 2022 nach Köln.

Yuliia Radchenko ist Praktikantin in der Rhein-Erft-Redaktion und erzählt ihre Geschichte.
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Die Reise war lang und anstrengend: Wir fuhren mit dem Bus von Ternopil ungefähr 35 Stunden, da wir sehr lange an der polnischen Grenze warten mussten.
Dank der Hilfe des Bekannten meines Vaters wussten wir schon vorher, wo wir wohnen würden. Wir sind ihm und auch der Familie, die uns aufnahm, sehr dankbar; und allgemein allen Menschen, die uns geholfen und unterstützt haben. Zwei Wochen später feierte ich meinen 20. Geburtstag am 11. Juli.
Es war ein sehr trauriger Tag, aber ich bin dankbar, dass wir keine Sirenen oder Explosionen hören mussten. Bis heute wohnen wir in diesem Haus bei einer deutschen Familie. Wir fühlen uns dort wie zu Hause und sind unendlich dankbar, dass wir immer noch bleiben dürfen. Die Frau half uns besonders sehr viel – bei allen Dokumenten, der Anmeldung und dem Alltag. Da ich die Sprache nicht sprach, redete ich anfangs überall auf Englisch.
Rückkehr in die Ukraine wird zur schlimmsten Nacht ihres Lebens
Im November haben meine Mutter und ich angefangen, Deutschkurse bei der VHS zu besuchen. So verging viel Zeit: Deutsch zu lernen und gleichzeitig mein Studium nicht abzubrechen, war unfassbar schwierig. Ich hatte hier nicht viele Freunde, und die Routine machte mich fertig, deshalb wollte ich noch etwas tun und begann ein Praktikum. Dort habe ich meinen heutigen Freund kennengelernt. Kurz danach ich habe ihn zu meinem Geburtstag eingeladen.

Zerstörtes Gebäude in Odessa. Einsatzkräfte durchsuchen die Trümmer nach Überlebenden.
Copyright: AFP Photo/State Emergency Service of Ukraine
Am Tag danach sind meine Mutter und ich in die Ukraine gefahren, um unsere Familie zu besuchen. Wir waren etwa eine Woche in Ternopil und danach eine Woche in Odessa. Dort erlebte ich die schlimmste Nacht meines Lebens: Um mein Haus herum flogen Raketen. Es war so schlimm, dass ich nachts meinem Freund schrieb: „Ich bin sehr froh, dass wir uns kennengelernt haben, aber ich glaube nicht, dass ich diese Nacht überlebe.“ Doch, ich habe überlebt, obwohl viele Gebäude in meiner Nähe zerstört waren. Ich war unglaublich froh, als wir lebend nach Deutschland zurückgekehrt sind.
Manche werden fragen: „Warum seid ihr trotz aller Gefahr gefahren? Ihr wisst doch, dass Krieg herrscht!“ Ich kann nur antworten: „Man weiß nie, wann man seine Familie das letzte Mal sieht... Jeden Tag, egal wo man ist, kann in der Ukraine alles passieren.“
Ein neues Leben in Deutschland
Als wir zurück waren, lernten wir weiter Deutsch, bis wir das B1-Niveau erfolgreich absolvierten. Danach besuchte ich noch für drei Monate einen Deutschkurs in Frechen. Im April lernte ich weiter Deutsch an der TH Köln, von B1 bis C1. Der Kurs dauerte etwa ein Jahr.
Ein wichtiger Schritt für mich dann Ende Juni: Ich hatte mein ukrainisches Diplom abgelegt. Am Ende des Deutschkurses habe ich die Prüfung erfolgreich bestanden und später ein DSH-3-Zertifikat (die Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang) erhalten. Ja, ich mache immer noch Fehler, aber im Vergleich zum Anfang läuft es, ich kann reden und die Menschen verstehen auch, was ich sage.
Das Leben als Flüchtling ist nicht einfach. Ein neues Leben aufzubauen – ohne Sprache, ohne Kontakte und ohne Freunde – ist eine große Herausforderung. Auch wenn wir alle stark und voller innerer Kraft sind, wäre es ohne die Unterstützung von außen unmöglich gewesen, diesen Weg zu gehen. Deshalb empfinde ich eine tiefe Dankbarkeit für die Möglichkeit, die mir Deutschland geschenkt hat – die Chance, mein Leben neu aufzubauen, Hoffnung zu schöpfen und Schritt für Schritt einen neuen Anfang zu wagen.
Ich weiß, dass es verschiedene Meinungen zur Unterstützung der Menschen in der Ukraine gibt. Ich möchte hier nur meine Geschichte erzählen und mich auch hundertmal bei allen Menschen bedanken, die mir und uns Ukrainern geholfen haben und uns weiterhin helfen – mit der Hoffnung, dass der Krieg so schnell wie möglich vorbei ist.
Mein Leben geht weiter, auch wenn es sich in den letzten Jahren stark verändert hat. Ich möchte in Deutschland ein neues Kapitel beginnen und an der TH Köln das Fach „Online-Redaktion“ studieren. Für mich bedeutet das nicht nur eine akademische Ausbildung, sondern auch die Chance, mir eine neue Zukunft aufzubauen. Mein Ziel ist es, Schritt für Schritt voranzugehen und mir hier in Deutschland ein Zuhause zu schaffen, an dem ich mich nicht nur sicher, sondern auch wirklich glücklich fühlen kann.
Ich wünsche mir, in einer Umgebung zu leben, in der Stabilität und Geborgenheit einen festen Platz haben, und in der ich gleichzeitig die Möglichkeit habe, persönlich und beruflich zu wachsen, Neues zu lernen und mich kontinuierlich weiterzuentwickeln. Für diese Zukunft bin ich bereit, mein Bestes zu geben und Hindernisse mit Geduld und Ausdauer zu überwinden.
Dabei begleitet mich stets der Gedanke: „Eines Tages wird der Krieg vorbei sein. Und dann werde ich meine Familie endlich wieder in die Arme schließen können.“ Bis dahin gehe ich meinen Weg Schritt für Schritt, mit Hoffnung im Herzen und dem tiefen Wunsch nach Frieden.