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BaumsachverständigerEine Stimme für die Bäume

4 min

Mit einem Kronendurchmesser von gut 20 Metern bietet die Sommerlinde einen imposanten Anblick.

Rhein-Sieg-Kreis – Es sei, sagt Heiner Dresen, wie die Diagnose für einen Patienten. Erstmal eine Anamnese: Wie lebte der Betroffene bislang? Was fehlt ihm jetzt? Das Patientengespräch ist gar nicht so einfach: Wo menschliche Kranke ihr Leid klagen können, bleiben seine Kunden stumm. Denn er ist kein Arzt, sondern öffentlich bestellter und vereidigter Baumsachverständiger der Landwirtschaftskammer NRW. Aber Heiner Dresen versteht es, den grünen Riesen ihre Geheimnisse zu entlocken.

77 Naturdenkmale gibt es mittlerweile im Rhein-Sieg-Kreis, die meisten hat Heiner Dresen Jahre lang betreut. Zweimal im Jahr müssen die Bäume auf ihre Verkehrssicherheit geprüft werden, auf ihren Stand und auf die Bruchsicherheit. Bis Dezember schaute er bei den oft mehrere Hundert Jahre alten Riesen so regelmäßig vorbei wie ein Hausarzt bei betagten Menschen.

Seine Sprechstunde läuft immer ähnlich ab. Laut Baumkontrollrichtlinie muss er die Giganten erst im Gesamtbild ins Auge fassen. Dann nimmt der Mann aus Bonn Wurzeln, Stamm und Krone unter die Lupe. „Man kann schon am Boden erkennen, wenn etwas nicht stimmt. Wenn er zum Beispiel verdichtet ist, bilden sich Pfützen“, berichtet er. Das geschehe oft in Innenstädten, wenn Autos auf den Baumscheiben stehen. Im verdichteten Boden könnten die Wurzeln nicht mehr ausreichend CO2 „veratmen“. Das aber müssen sie, damit die Pflanze gesund bleibt.

Auch die Krone verrät, wie es um ihren Besitzer steht. „Ist das Laub zu klein oder vergilbt, ist das kein gutes Zeichen“, erklärt Heiner Dresen. „Äste, die in äußeren Kronenbereichen absterben, sind ein Alarmzeichen.“ Zwar sei es normal, dass Bäume Schattenäste aus den unteren Bereichen der Krone abwürfen. Doch aus den lichten Regionen darf sich nichts Größeres lösen.

Bei Schäden, erklärt Dresen, werde nach der Vorhersagbarkeit gefragt. Zeigt der Patient also Symptome, doch die erste Krankenschau gibt keinen Aufschluss, müssen bildgebende Verfahren ran: Menschen werden geröntgt, Bäume bekommen eine Schalltomographie. Damit wird deutlich, ob das Innere des Stammes defekt ist. Verletzende Methoden wie Bohrungen lehnt der Pflanzenfreund ab. „Das muss heute nicht mehr sein.“ Zudem berge die Verletzung die Gefahr, dass sich Pilzsporen festsetzen. Pilze zersetzen das Holz und bringen so die Riesen irgendwann zum Einsturz. Überhaupt spricht aus dem Experten häufig der Wunsch, seinen stummen Schützlingen eine Stimme zu geben. „Wenn ich Privatleute sehe, die gesunde, große Bäume ohne Sinn und Verstand zurückschneiden, weil sie Angst haben, dass Äste runterfallen, das macht mich richtig ärgerlich.“ Die Gewächse, immerhin lebende Organismen, könnten sich gegen die brutale Behandlung nicht wehren und die abgeschnittenen Gliedmaßen meist nicht ausgleichen. Oft, findet Dresen, sei so ein Rückschnitt überflüssig. „Ich würde mir wünschen, dass Gartenbesitzer vorher jemanden fragen, der sich auskennt.“

Der 57-Jährige selbst hat seinen Beruf von der Pike auf gelernt. Als Gärtnermeister beschäftigte er sich zunächst in einer Baumschule nur mit Jungpflanzen, begann aber später, als er schon bei der Behörde Straßen NRW beschäftigt war, sich auch für ausgewachsene Exemplaren zu interessieren.

Vor 20 Jahren belegte er Lehrgänge und Seminare und lernte sich in Physik und Biologie der ausgewachsenen Bäume ein. Vor sieben Jahren legte er die Prüfung bei der Landwirtschaftskammer Bonn zum öffentlich bestellten Sachverständigen ab. Fazit: „Eigentlich ist ein Menschenleben zu kurz, um das alles zu erfassen.“ Auf Umwelteinflüsse reagierten etwa Linden anders als Eichen und Birken anders als Pappeln.

Bei heftigen Unwettern wie jüngst in Siegburg hat Dresen besonders viel zu tun. „Die Bäume an der Wahnbachtalstraße sind rund 90 Jahre alt, von denen kamen Äste von 30, 40 Zentimetern Durchmesser runter“, berichtet der Sachverständige. Das liege nicht daran, dass die Bäume krank waren – „das sind Extrembelastungen, die einfach zu groß sind.“ Für 20 der Notfallpatienten kam jede Hilfe zu spät: Sie mussten gefällt werden.

Das letzte Exemplar, das Dresen betreute, war die große Sommerlinde in Lohmar-Halberg, deren Standortsanierung jüngst offiziell beendet wurde. Nun will sich der Familienvater stärker anderen Dingen widmen. Eines steht dabei nicht auf seiner Liste: das große Grün. „Einen Garten hatte ich früher“, sagt er lachend. „Heute wohne ich im vierten Stock, mit einem Balkonkasten!“