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Inklusion und SchulbegleitungWarum eine Grundschule in Neunkirchen-Seelscheid auf Klavierklänge setzt

5 min
Kinder lernen liegend auf Matten und sitzend auf Sechseck-Elementen

Lernen im Sitzen oder im Liegen, nicht nur das entscheiden die Kinder an der Grundschule Wolperath-Schönau selbst. Inklusion soll auf die Bedürfnisse aller Kinder eingehen.

Kopfhörer und Klavierklänge stehen in Wolperath für die Inklusion. Das gilt auch für Schulbegleiter, doch die Hürden für deren Einsatz sind hoch.

Pianoklänge schweben durch die Klassen und die Flure. Kinder liegen auf Matten, unterhalten sich leise, einige kippeln auf Hockern, andere tragen Gehörschutz. Ist schon Pause? Nein, auf dem Stundenplan steht Mathematik. Ob sie die Aufgaben am Tisch lösen oder auf dem Boden, allein oder gemeinsam, das entscheiden die 205 Schülerinnen und Schüler selbst. Alle sollen so glücklich wie möglich sein, das bedeute für sie Inklusion, so beschreiben Stefanie Weber-Verlinden und Alice Kelterborn den Weg, den die der Grundschule Wolperath-Schönau seit 20 Jahren geht.           

Der war nie einfach, werde aber zunehmend schwerer, das schilderte die Schulleitung kürzlich im Rathaus. Die Kommunalpolitik befasste sich mit dem Thema Schulbegleiter, vom Jugendamt finanzierte Helfer, die Kindern mit emotionalem und sozialem Förderbedarf zur Seite stehen sollen. Doch in vielen Fällen würden Anträge abgelehnt. Das sei richtig, bestätigten die Vertreterinnen der Behörde im Ausschuss. Gründe: Die Eltern ziehen nicht mit, oder die Voraussetzungen sind laut Jugendamt nicht gegeben. 

Es gibt Schüler in Neunkirchen, die brauchen eine Gewichtsweste oder einen versetzten Schulbeginn

So werde letztendlich der Nachwuchs bestraft, meinen die Lehrerinnen. Aktuell gebe es drei Schulbegleiter in Wolperath, vier Anträge beim Kreisjugendamt liefen noch. Deren Einsatz – Ansprache, auch körperliche Impulse – sei manchmal das richtige Mittel. Man schaue stets auf den Einzelfall, so brauche ein Kind eine Gewichtsweste, ein anderes die Therapieschaukel, einen Gehörschutz oder einen versetzten Schulbeginn. Das Rollstuhlsymbol, das oft für Inklusion stehe, greife zu kurz.   

Aktuell gebe es in zwei Klassen jeweils Kinder, die keinen Moment ohne die persönliche Ansprache der Lehrperson oder deren direktes Eingreifen beschult werden könnten, so Weber-Verlinden. „Wir müssen in diesen Fällen in durchgehender Doppelbesetzung arbeiten – eine Ressource, die uns nicht zur Verfügung steht.“ Denn zu ihrem Recht sollen natürlich auch die vielen anderen Kinder kommen, ungestört dem Unterricht folgen, ihre Aufgaben erledigen, Projekte durchführen und sich entfalten können.

Die Schulleitung: Steffi Werber-Verlinden (r.) und Alice Kelterborn.

Die Schulleitung: Steffi Werber-Verlinden (r.) und Alice Kelterborn.

Die Bedürfnisse der Kinder zu sehen heiße nicht, auf jedes Bedürfnis stets Rücksicht zu nehmen, stellen die Schulleiterinnen klar. Und Glück (siehe oben) bedeute nicht, immer nur Spaß zu haben. Mit Anstrengung und Mühe etwas zu schaffen, das sei ein wichtiger Lernerfolg. Und wer anderen etwas erklären dürfe, verstehe es oft selbst besser.     

In den vergangenen 20 Jahren habe sich einiges geändert, es gebe eine große Bandbreite von Erziehungsstilen, eine stärkere Kinderzentrierung. Einerseits prima, andererseits problematisch, „wenn die Bedürfnisse des Kindes nach Grenzen, nach Struktur und klarem Nein nicht beachtet werden“, erklärt Stefanie Weber-Verlinden. „Wir fragen im Elterngespräch: ‚Wie sehen Sie Ihr Kind, was läuft gut, was macht Ihnen Bauchschmerzen?‘“

Aus der Ich-Zentriertheit eines Kleinkindes müsse die Erkenntnis wachsen, Teil einer Gruppe zu sein und wahrzunehmen: „Wie geht es meinem Gegenüber damit, wie ich mich verhalte?“ Das ist auch Thema im Klassenrat, jeden Freitag. Was war gut in der Woche, was nicht so toll, wo habe ich mich geärgert, geängstigt, nicht wohlgefühlt? Darüber sprechen die Kinder.

Einmal im Monat tagt das Schulparlament, es gibt eine Ideenwerkstatt, in der auch Eltern mitwirken. Im Flur hängt ein Beschwerdebriefkasten, rege genutzt. Da gehe es zum Beispiel um Situationen, die als ungerecht empfunden wurden und die im Gespräch, mit Unterstützung von Lehrkräften, geklärt werden könnten. Kinder dürften durchaus Kritik gegenüber Erwachsenen äußern, natürlich anständig. „Das Mitsprechen, die Partizipation, ist für uns auch Inklusion.“

Die inklusive Schule, die nicht mehr Planstellen hat, erfordere vom gesamten Team hohes Engagement, das räumt die Schulleitung ein. Die Bereitschaft, sich auszutauschen und abzustimmen, voneinander zu lernen – und von den Kindern; die freiwillige Verpflichtung für Vollzeitkräfte, jeden Tag bis 16 Uhr zu bleiben; auch den Unterricht in Teams für die ganze Woche zu planen, damit jede die andere vertreten könne, sagt Alice Kelterborn: „Bei uns ist noch keine Stunde ersatzlos ausgefallen.“     

Der größte Lernerfolg sei nicht unbedingt der Weg zum Gymnasium. Hier gehe es darum, den individuell besten Weg für das jeweilige Kind zu finden. Allen helfe, entspannt und ohne Angst zu lernen, die sanften Klavierklänge trügen dazu bei. Die Rückmeldung der weiterführenden Schulen bestätige ihre Arbeit, so Weber-Verlinden: „Unsere Kinder sind nicht schulmüde, super vorbereitet, sie können sprechen und fordern auch etwas ein.“

Eine Schulbegleitung schlage die Grundschule nur in begründeten Einzelfällen vor, als Basis für die Bildungs- und Chancengleichheit; oft reiche eine begrenzte Zeit, ohnehin würde der Bedarf jedes halbe Jahr überprüft. Im Ausschuss appellierte sie an das Kreisjugendamt: „Wir brauchen starke Partner.“ Es gebe enge Vorgaben, erwiderten die Behördenvertreterinnen. Daran seien sie gebunden.


Warum gibt es immer mehr Schulbegleiter?

Warum brauchen immer mehr Kinder Schulbegleiter? Die Redaktion sprach mit Diplom-Psychologin Sara Glashagen (39), Leiterin der schulpsychologischen Beratungsstelle des Rhein-Sieg-Kreises.

Täuscht der Eindruck, oder sitzt in jeder Klasse ein Schulbegleiter?

Nein, das ist nicht so. Aber durch die Inklusion gibt es immer mehr gemeinsamen Unterricht an Regelschulen. Und daher auch mehr Bedarf an Unterstützung und Sensibilität für Beeinträchtigungen. Dazu ist die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen seit der Corona-Zeit gestiegen. Krisen und Kriege verstärken den Druck, auch bei Eltern und Lehrkräften. 

Welchen Einfluss haben Erziehung und Mediennutzung?

Damit ein Kind sich gut entwickeln und lernen kann, sind viele Faktoren wichtig, natürlich auch die Erziehung. Zum Beispiel testen Kinder, die wenig Grenzen erfahren haben, häufig Grenzen aus. Wir besprechen mit den ratsuchenden Eltern die Probleme, woran es liegen und was helfen kann. Sicher nicht nur an der Mediennutzung.    

Was raten Sie Eltern, die eine Schulbegleitung aufgrund einer seelischen Beeinträchtigung möchten?

Man sollte sich nicht nur auf ein Instrument fokussieren. Häufiger wird die Begleitung aber von Schulen vorgeschlagen, da sich der Bedarf vor allem dort zeigt. Wir als Beratungsstelle beleuchten mit Eltern und Lehrkräften verschiedene Ansatzpunkte. 

Was sind die Voraussetzungen für eine Bewilligung?

Es braucht eine psychiatrische Diagnose. Da geht viel Zeit ins Land, das ist schon eine hohe Hürde für die Eltern. Zuständig ist das jeweilige Jugendamt oder Sozialamt, je nach Diagnose.