„Die Menschen werden hier ganz ruhig“Der Archehof Mertens lädt zum Kuhkuscheln ein

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Journalistische Distanz hat hier keine Chance: Redakteurin Cordula Orphal auf Tuchfühlung mit den Kühen. 

Ruppichteroth – Die Nase schnuppert zarten Duft, der an Babys erinnert; die Hand umfasst ein warmes Horn, das Ohr vernimmt ein leises Prusten – auf Fellfühlung mit Elli, Bob und Michel hat die journalistische Distanz keine Chance. Die behäbigen Vierbeiner kommen näher, schnuppern, stupsen gegen meine Beine, lecken die Schuhe ab. Zum Kuhkuscheln gehören zwei.

Gerade noch schnatterten Nadine Zinsser und die Reporterin über den Hof Mertens im Weiler Velken. Jetzt, auf der Streuobstwiese, flüstere ich nur noch, verstumme. Schaue, höre, rieche, spüre. Uwe Mertens schmunzelt: „Die Menschen werden hier ganz ruhig.“

Entspannt hat sich Elli, weiße Haut mit schwarzen Sprenkeln, im Gras ausgestreckt. Ich sitze neben dem 500-Kilo-Koloss, nehme einen Huf in die Hand, umfasse die spitzen, erstaunlich warmen Hörner. „Die sind durchblutet“, erklärt die Bäuerin. Die Körpertemperatur fühlbar höher als die des Menschen, zwei Grad. Dass Elli hier liegt und lebt, ist ein kleines Wunder: „Sie galt als hässlich und sollte, ungeeignet für die Zucht, aussortiert werden, getötet“, beschreibt die 39-Jährige.

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Vor Kuh Pepsi, die Kälbchen Nils säugt, müsse sich niemand fürchten, sagen Nadine Zinsser und Uwe Mertens (l.). 

Bob tritt in Aktion. Das fuchsbraune, wuschlige Bullenkälbchen, ein Geburtstagsgeschenk von Landwirt Uwe Mertens für seine Partnerin, ist sehr menschenbezogen, ein Extrem-Schmuser. Der Einjährige spielt eine Sonderrolle in der Herde, fast allein unter Frauen: Er geht auch auf Kinder im Rollstuhl zu, sucht den Körperkontakt, der aufgrund seiner geringen Größe keine Furcht auslöst, so die Erfahrung von Zinsser, die aus einem hessischen Dorf stammt, „wo die Gülle über die Straße lief“.

Sie lernte Altenpflegerin, arbeitete mit Behinderten, absolviert derzeit eine Fortbildung für die „Tiergestützte Therapie“. Denn nicht nur Pferde, Hunde und Delfine eignen sich als pädagogische und alternativmedizinische Begleiter, sondern auch Kühe – allerdings nicht jedes Tier gleichermaßen.

Der Archehof

Vom Kuhkuscheln allein könnte der Betrieb nicht existieren. Der Hof Mertens züchten Hinterwälder, haben eine Herdbuchhaltung, verkaufen Jungtiere an andere Halter. Ihr Betrieb trägt das Siegel „Archehof“ und ist auch ein Lebenshof, wo Rinder aus Qualhaltung aufgepäppelt werden.

Der Tierschutz hat auf dem Hof Kühe untergebracht; auch Patenschaften werden vermittelt. Uwe Mertens und seine Partnerin halten auch Hühner. Ein Pensionspferdestall bringt ebenso Einnahmen wie der Vertragsnaturschutz. Zwei Drittel des Grünlandes, erklärt Uwe Mertens, bewirtschaftet er extensiv. Der Hof produziert sein eigenes Futter. Die dreistündigen Kindergeburtstage kosten pro Gruppe 95 Euro. Vierköpfige Familien zahlen 65 Euro für das Kuh-Erlebnis, andere Preise nach Vereinbarung. (coh)

Von den 23, die derzeit auf dem Archehof leben, wollen drei überhaupt nicht kuscheln. Einige sind aktiv, andere eher passiv, lassen sich zwar streicheln, stehen aber auf, wenn sie anderes im Sinn haben.

Sanftheit strahlen sogar die Bullen aus. Und Pepsi, die ihr Kälbchen Nils säugt? Da gab es doch kürzlich einen Angriff einer Mutterkuh in Österreich, bei dem eine Frau zu Tode kam. Vor ihren Tieren müsse sich niemand fürchten, versichert die Kuh-Flüsterin, die auf die Stockmanship-Methode schwört. Die artgerechte, stressfreie Haltung und der Aufbau von Vertrauen zwischen Menschen und Herdentier stehen im Zentrum.

Beim Kuhkuscheln in Velken erlebt man das Landleben mal ganz anders

Familien vor allem nutzen das außergewöhnliche Angebot, das in Velken vor einigen Monaten startete. Nach der Corona-Pause finden nun wieder Kindergeburtstage mit bis zu zehn Kindern auf der Weide statt. Einzelne, Paare, auch Ältere erleben das Landleben mal ganz anders. Man sollte schon Tiere mögen, meint das Paar, wer ein wenig ängstlich ist, setzt sich einfach an den Rand und genießt das Idyll.

Abenteuerlustige zieht es zu den massiven Bullen auf der Nachbarweide. Da steht der majestätische, 13-jährige Michel, der einst zum Holzrücken eingesetzt wurde, neben einem zarten Jersey, dem Reh unter den Rindern. Ein Schwarz-Weißer mit imposanten Hörnern kommt mit gesenktem Kopf auf uns zu: „Hey, hey“, ruft Nadine Zinsser und schiebt seinen Kopf zur Seite. Der wolle nur spielen. „Er weiß gar nicht, wie groß und kräftig er ist.“

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Eher klein und schmal sind die Hinterwälder, mit beigefarbenem, braun geflecktem Fell. Die Zucht der alten, vom Aussterben bedrohten Rasse aus dem Südschwarzwald sei ein wichtiges Standbein, erklärt Uwe Mertens. Der 55-Jährige hat vor Jahrzehnten den elterlichen Betrieb übernommen und wollte vieles anders machen. Seine Partnerin trägt ihre Leidenschaft sogar auf ihrer Haut: als Kuh-Tattoo auf dem Unterarm.

Die beiden zeigen den Offenstall, wo die Rinder auch im Winter ins Freie können. „Rechts standen früher die Bullen und links die angebundenen Milchkühe“, schildert Mertens. Seine Mutter stehe dem Kuscheln distanziert gegenüber, der verstorbene Vater hätte vermutlich ebenfalls den Kopf geschüttelt „und uns für verrückt erklärt“.

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