Rekordinflation - Umfrage in Siegburg„Man muss es nicht in jedem Raum warm haben“

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„Früher war der Wagen für 50 Euro voll": Julia Wiener (r.) mit Mutter Irene.

Rhein-Sieg-Kreis – Mitten im Sommer bereitet sich Lothar Klatt auf den Winter vor. „Ich habe den Abschlag für Gas verdreifachen lassen“, sagt der 66-Jährige, um nicht kalt erwischt zu werden bei der Jahresendabrechnung, eine Strategie, die sich nicht jeder leisten kann. Wie umgehen mit der Rekordinflation, wo lässt sich der Gürtel enger schnallen? Das fragten wir Menschen auf dem Siegburger Markt und vor einem Supermarkt im Deichhaus, einem Stadtteil mit vielen Geringverdienern.

Gezielt zum türkischen Supermarkt

„Früher war der Wagen für 50 Euro voll“, beschreibt Julia Wiener. Sie hat mit ihrer Mutter Irene gezielt den großen, türkischen Supermarkt zwischen den Sozialbauten in der Händelstraße angesteuert. „Hier sind die Preise niedriger, eigentlich.“ Wiener guckt in die große Tasche: „Milch, Butter, Joghurt, alles zuerst 10, dann 20, nun 40 Cent teurer.“

Wo könnte sie sparen? Die Köchin zuckt die Achseln: „Ich arbeite hart und viel und verdiene wenig. Habe für einen höheren Lohn extra den Job gewechselt, und nun bleibt nichts übrig.“ Ihr gehe es aber noch vergleichsweise gut, meint die 39-Jährige: „Meine Mutter kommt aus Russland und hat hier keine Vollzeitarbeitsstelle mehr gefunden, nur einen Minijob.“

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Lothar Klatt denkt an den Winter: „Ich habe den Gas-Abschlag verdreifacht.“

Eine Rente vom Staat habe sie nicht zu erwarten, sagt Irene Wiener, nur ein wenig privat vorgesorgt. Noch arbeite ja ihr Mann, wenn er im kommenden Jahr in Rente gehe, sei zum Glück die kleine Eigentumswohnung abbezahlt, große Sprünge könnten sie nicht machen. Sorgen macht sich Julia Wiener um ihre 97-jährige Großmutter, die schon jetzt kaum über die Runden komme. „Was soll nur im Winter werden? Davor haben wir alle Angst.“

Vor allem Nahrung und Energie teurer

Laut Statistischem Bundesamt lag die Inflation im Juni mit 7,6 Prozent etwas niedriger als im Mai (7,9 %). Der sogenannte harmonisierte Verbraucherpreisindex lag indes bei 8,2 %, zugrunde gelegt wird ein anderer Warenkorb, auf den sich die Corona-Pandemie und ihre Folgen für das öffentliche Leben besonders stark auswirken. Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine sind insbesondere die Preise für Energie merklich angestiegen und beeinflussen die hohe Inflationsrate erheblich. So stiegen die Energiepreise um 38 % gegenüber dem Vorjahresmonat. Auch die Preise für Nahrungsmittel stiegen mit 12,7 % überdurchschnittlich. (coh)

Ernsthaft Gedanken machen sich auch die besser Verdienenden, vor allem um den sozialen Zusammenhalt. Wie Carolin Lohmann, Referentin bei einer Hilfsorganisation. „Mein Vater arbeitet ehrenamtlich bei der Tafel. Die Lebensmittel reichen längst nicht für alle Bedürftigen.“ Lohmann stellt ihre Einkäufe ab, frisches Obst vom Marktstand, Fleisch vom Metzger: „Gerade, wenn man ein kleines Kind hat, legt man doch Wert auf gesunde Ernährung“, sagt sie, und es klingt fast entschuldigend.

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Die gestiegenen Preise spüre sie deutlich an der Kasse, ein Einkaufszettel wirke vorbeugend gegen Spontankäufe, so die 35-Jährige: „Den nehme ich jetzt immer mit.“

Bernhard und Helene Mrachacz sind mit dem Neun-Euro-Ticket von Seelscheid in die Siegburger City gefahren, das spart Benzin fürs Auto. Der große Wocheneinkauf wird im Discounter erledigt. „Der ist nun 30 Prozent teurer“, schätzt der 74-jährige Pensionär. Er bezweifeln, dass die Inflation allein durch den Ukrainekrieg verursacht wird. „Da machen auch andere ihren Gewinn.“

Sie seien beide mit vielen Geschwistern groß geworden, „da lernt man mit wenig auszukommen“, meint die 72-jährige Rentnerin. „Wenn der Urlaub nicht mehr drin ist, bleiben wir halt zu Hause.“ Gesellschaftliche Probleme würden jetzt sichtbarer, sagt ihr Mann: „Es gibt eine Menge Menschen in prekärer Beschäftigung, die sind für viele gar nicht existent.“

Lothar Klatt packt die Eier ein, den Fleischkäse, die Pflaumen: „Heute kommen die Enkel.“ Der Rentner vergleicht nun verstärkt die Preise: Hier der Spargel für 12 Euro pro Kilo, dort, am Verkaufsstand eines heimischen Bauern, für 2,99 Euro, unglaublich. „Wir haben schon verschwenderisch gelebt“, sagt er. Zumindest beim Heizen soll damit Schluss sein. „Man muss es nicht in jedem Raum warm haben.“

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