Neue GeschäftsführerinJobcenter Rhein-Sieg hilft nicht nur bei der Suche nach Arbeit

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Eine Frau mit dunklen Haaren, weißer Bluse und brauner Hose steht vor einem Bild, das den Sozialstaat erklärt. Sie lächelt den Fotografen an.

Anja Roth ist seit Anfang Juni Geschäftsführerin des Jobcenters Rhein-Sieg

Geflüchtete aus der Ukraine und Umstellung auf das Bürgergeld sind Herausforderungen. Integration der Ukrainer ist kein Selbstläufer.

Seit Anfang Juni ist Anja Roth, zuvor über Monate kommissarisch im Amt, die Geschäftsführerin des Jobcenters Rhein-Sieg. Eine Arbeit, die sie kennt: Von 2005 bis 2009 war sie schon einmal beim Jobcenter, bevor sie der Berufsweg unter anderem ins Siegburger Standesamt und die Pressestelle der Kreisverwaltung führte.

Die Arbeit im Jobcenter „macht Spaß, weil wir so vieles verändern können“, sagt die 42-Jährige. „Man hilft, das Leben zu verändern.“ Erst tags zuvor hat Anja Roth einen Mann getroffen, der 20 Jahre lang arbeitslos war und jetzt über eine Arbeitsgelegenheit wieder in eine feste Anstellung kam.

50 Prozent mehr Anträge auf Bürgergeld im Rhein-Sieg-Kreis

Knapp 40 000 Menschen im Rhein-Sieg-Kreis bekommen Sozialleistungen, die seit dem 1. Januar Bürgergeld heißen. Neu sind auch die erhöhten Regelsätze und erhöhte Freibeträge beim Einkommen, was Folgen hat: Seit dem 1. Januar wurden 50 Prozent mehr Anträge gestellt als im Vorjahreszeitraum, es gab allerdings nur 15 Prozent mehr Bewilligungen. Immerhin: Es sei gelungen, „das Stigma zu beenden“, sagt Anja Roth. Die Menschen trauten sich, nach einem möglichen Anspruch zu fragen.

Das Argument, dass es sich doch gar nicht mehr lohne, zu arbeiten, das kennt auch Anja Roth. Gelten lässt sie es nicht. „Die Freibeträge für Zuverdienst sind ja erhöht worden“, außerdem zahle nur, wer arbeite, in Renten- und Pflegeversicherung ein. „Jeder Menschen möchte sich wichtig fühlen“, sagt sie und ist auch vom psychischen Wert einer Arbeitsstelle überzeugt. Nicht zuletzt sei die Vorbildfunktion für Kinder so wichtig.

Hilfe vom Jobcenter für die ganze Familie

Nicht neu ist das Ziel der Jobcenter-Arbeit, über Förderung und Kooperation Menschen in Arbeit zu bringen. Und nicht nur das: „Wir betrachten immer die ganze Familie.“ Dazu gehört zum Beispiel eine Förderung der Schuldnerberatung ebenso wie ein „Coaching“ für den Start in die neue Stelle oder Unterstützung bei Sprach- und Weiterbildungskursen.

Jeder Menschen möchte sich wichtig fühlen
Anja Roth, Geschäftsführerin Jobcenter Rhein-Sieg

Neues Instrument ist seit dem 1. Juli der Kooperationsplan, den Berater und Kunden gemeinsam aufstellen, um Ziele und Schritte festzulegen. „Zusammenarbeit auf Augenhöhe“ nennt das Anja Roth. Weiterbildungsgeld, Bürgergeldbonus und Weiterbildungsprämie sind weitere Anreize auf dem Weg zurück in Arbeit.

Sanktioniert wird nach wie vor, wenn auch in geringem Umfang: „Die Quote war 1,7 Prozent.“ Es werde auch nicht beim ersten Mal die Leistung gekürzt, später dann zehn Prozent einbehalten. „Es ist keine Willkür“, versichert die Geschäftsführerin.

Skepsis gegenüber Plan von Hubertus Heil und Christian Lindner

Die geplante Übernahme der unter 25-Jährigen – rund 4500 , davon knapp 1000 Arbeitslose – in die Zuständigkeit der Arbeitsagentur sieht sie kritisch. Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) wollten damit 900 Millionen Euro aus dem steuerfinanzierten Jobcenter in die Versicherungsleistungen der Arbeitsagentur schieben.

Aber: „Da ist es ja nicht mit einer Ausbildungsberatung getan.“ Brächen die jungen Leute ihre Ausbildung ab, „dann verlieren wir ja auch wieder Fachkräfte“. Zudem scheine es „viel komplizierter zu werden“, wenn mit der Arbeitsagentur und dem Jobcenter wieder zwei Institutionen in einer Familie arbeiteten.

Bezahlen müsse das die Versichertengemeinschaft, erklärt Roth. Und irgendjemand müsse die Jugendlichen schließlich betreuen. Dann, so ihre Befürchtung, „landet es wieder bei den Kommunen“.

Vor große Herausforderungen stellte die Betreuung der ukrainischen Geflüchteten seit dem vergangenen Jahr die mehr als 500 Beschäftigten in den sieben Geschäftsstellen und der Zentrale. Fast 5000 geflüchtete Menschen erhalten Sozialleistungen, drei Viertel davon sind Frauen. Die Zahl der Neuanträge ist inzwischen erheblich gesunken; aktuell sind es noch etwa 200 im Monat.

1500 Kinder und Jugendliche besuchen die Schule, etwa 2000 Erwachsene besuchen derzeit einen Sprachkurs. Mit sechs bis acht Wochen Wartezeit stehe der Rhein-Sieg-Kreis sehr gut da, betont Roth. „Anderswo sind das Monate.“

Schnelle Integration der ukrainischen Geflüchteten oft nicht möglich

Eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt – viele hätten im vergangenen Jahr damit gerechnet, Personallücken zum Beispiel in der Gastronomie zu stopfen – sei aber trotzdem vielfach nicht möglich. Etwa die Hälfte der Teilnehmenden bestehe die Sprachprüfung nicht im ersten Anlauf; bei der Anerkennung von Abschlüssen „sind wir in Deutschland nicht gut“. In der Praxis sei es schwer, auch fehlende Kinderbetreuung sei ein Hindernis. Viele Geflüchtete hätten wohl auch den Kopf nicht frei angesichts der Situation in der Heimat.

Erleichtert nicht der Fachkräftemangel die Arbeit im Jobcenter? „Das Bürgergeld stellt die Qualifikation in den Vordergrund“, sagt Roth, die Mehrheit der Leistungsbezieher zähle schon lange zu den Kunden. Viele seien „entwöhnt“, haben Roth und die übrigen Beschäftigten festgestellt. „Je länger man bei uns ist, umso schwerer ist es.“ Mancher sei mit regelmäßiger Arbeit zunächst schlicht überfordert, „das sind Menschen, die machen zum Teil ihre Post nicht auf“.

Oft sind auch Schulden ein Thema. „Wir laden die Kunden ein, damit sie wieder Selbstwertgefühl kriegen“, an die Stelle der Klassiker wie Bewerbertraining – „machen wir nicht mehr“ – sind „sehr individuelle“ Kurse getreten. „Es ist nicht mehr 08/15.“

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