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AbschiedIn der Arbeit mit Behinderten hat sich im Rhein-Sieg-Kreis viel verändert

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Dr. Helene Müller-Speer geht nach 40 Jahren in der Behindertenarbeit in den Ruhestand; seit 1993 arbeitete sie für den Caritasverband Rhein-Sieg, zuletzt als Fachbereichsleitung.

Dr. Helene Müller-Speer geht nach 40 Jahren in der Behindertenarbeit in den Ruhestand. Seit 1993 arbeitete sie für den Caritasverband Rhein-Sieg, zuletzt als Fachbereichsleitung. Kirsten Liebmann (links) ist ihre Nachfolgerin.

Dr. Helene Müller-Speer geht nach über 30 Jahren beim Caritasverband Rhein-Sieg in den Ruhestand.

Als Helene Müller-Speer studierte, lebten Menschen mit Behinderungen meist noch in großen „Komplexeinrichtungen“, oft auf der grünen Wiese und mit einer starken eher medizinischen Ausrichtung. Aber es war auch eine Zeit des Umbruchs, wie sie sich erinnert. Seit 1982 arbeitet die inzwischen promovierte Erziehungswissenschaftlerin professionell mit und für Menschen mit Behinderung. Als Fachbereichsleiterin im Caritasverband Rhein-Sieg geht sie nun in den Ruhestand.

„So viel Normalisierung wie möglich, so viel Hilfe wie nötig“ wurde in den 1980er Jahren das neue Credo der Arbeit für Menschen mit Behinderung. An die Stelle überbehütender Behandlung eines „Sorgenkinds“ trat das Bemühen, den Menschen eine möglichst weitgehende Teilhabe und Selbstständigkeit zu ermöglichen. Zuvor „konnte jemand nicht mit einem Ei umgehen, weil es immer fertig geschält aus der Küche kam“, nun pellten die Betroffenen selbst. Von der isolierten Lage zogen die Wohnhäuser in die Zentren.

Wenn Mitarbeitende Sicherheit geben, gelingt eine Menge

So in Königswinter-Ittenbach, wo Dr. Müller-Speer beim Wechsel zum Caritasverband 1993 das Haus Nazareth mit zwölf Wohnplätzen kennenlernte. „Mitten im Ort“ wohnten dort die Menschen; viele hätten damals gedacht „das geht nicht“ – „und es ging“. Gleichwohl habe man auch damals die Haltung vertreten, dass die Betroffenen sich integrieren sollten, ein großer Unterschied zum heutigen Ansinnen der Inklusion: „Jeder bringt seine Stärken und auch Einschränkungen ein in die Gesellschaft“ formuliert sie das. Und „jeder profitiert vom anderen.“

Mitten im Ort leben die Bewohnerinnen und Bewohner von Haus Nazareth in Königswinter-Ittenbach und sind auch beim Karnevalszug dabei

Mitten im Ort leben die Bewohnerinnen und Bewohner von Haus Nazareth in Königswinter-Ittenbach und sind auch beim Karnevalszug dabei.

Ideale Zustände also? Nicht ganz, wie die Expertin klarmacht. „Ich glaube, dass Menschen mit Behinderung heute anders gesehen werden“; aber sie riefen „immer noch Befremden hervor“. Es gebe einen Teil der Betroffen, „die stehen im Licht“, andere indes würden nicht gesehen.

Gerade für die wachsende Zahl von Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung und anderen komplexen Beeinträchtigungen gelte das. „Sie zu begleiten, aber auch politisch nicht zu vergessen, ist ganz wichtig“.

Der größte Wandel ist, dass wir die Betreuten heute ernster nehmen
Dr. Helene Müller-Speer, ehemalige Fachbereichsleitung Caritasverband Rhein-Sieg

„Der größte Wandel ist, dass wir die Betreuten heute ernster nehmen“, erklärt die scheidende Fachbereichsleiterin im Blick zurück. „Dass wir versuchen, die Leistung aus dem Blickwinkel der Betroffenen zu erbringen“. Das aber gehe nur mit entsprechend qualifiziertem Personal. „Die Mitarbeitenden vor Ort sind das Entscheidende“, sie gäben den Bewohnerinnen und Bewohner der Häuser – der Caritasverband Rhein-Sieg unterhält mit dem Haus Hildegard in Niederkassel und dem Haus am Deich in Mondorf zwei weitere Häuser für Menschen mit Behinderung – die nötige Sicherheit. „Und plötzlich gehen Dinge, die vorher nicht möglich waren“.

Selbständiges Einkaufen, die Teilnahme am Trommelkurs oder das Überwinden von Ängsten nennt die Fachfrau als Beispiele. Dass jemand mit 60 Jahren noch mal eine Beziehung beginnt und sich verlobt, eine Beziehung auch mit Sexualität lebt. Dazu, so Müller-Speer, brauche es aber eben Mitarbeitende und einen Träger, der sagt: „Wir nehmen eine Wand raus, die bekommen ein Doppelbett“.

Zwei Frauen an einer Kegelbahn in einem Wohnheim.

Soviel Hilfe wie nötig, soviel Selbstständigkeit wie möglich: Das ist das moderne Credo in der Behindertenarbeit.

Bedenklich stimmt die 66-jährige Rheinländerin, dass mit dem Wegfall des Sorgebegriffs in der Behindertenarbeit auch das Wahrnehmen der Hilfebedürftigkeit verloren gehe: Hilfe müsse bleiben, betont sie; viele Betroffene bräuchten fachliche Begleitung, um normal leben zu können.

Die Integration in den ersten Arbeitsmarkt bleibt für viele Menschen mit Behinderung ein unerfüllbarer Wunsch, mehr und mehr wohnen inzwischen als Rentnerinnen und Rentner in den Wohnhäusern auch der Caritas. Massiv betroffen sind Menschen mit Behinderung vom Wohnungsmangel in Deutschland. Die meisten suchten im unteren Preissegment, so Müller-Speer und ihre Nachfolgerin Kirsten Liebmann. Die meisten seien im Leistungsbezug, denn „Menschen mit Behinderung sind in der Regel arm“.

Aber „der Markt ist leer.“ Darüber hinaus täten sich viele Vermieter damit schwer, an Betroffene zu vermieten. Der Caritasverband hilft, indem er als Zwischenmieter auftritt und weitervermietet, hat auch einige eigene Wohnungen für die Betreuten. Aber „es ist ein Tropfen auf den heißen Stein“.

Als ehrenamtliche Helferin bleibt sie dem Caritasverband Rhein-Sieg erhalten

Das „Staunen darüber, wie viele verschiedene Leben es gibt“, hat sich Dr. Helene Müller-Speer bis zum Renteneintritt bewahrt. Und auch darüber hinaus, wie sie erzählt: Als ehrenamtliche Helferin wird sie sich weiter engagieren. „Man kann auch im Ehrenamt viele spannende Sachen machen“, betont sie. Und wirbt zugleich mit Leidenschaft für die Ausbildung in der Heilerziehungspflege. „Es ist so ein toller Beruf“, schwärmt sie, „von Lachen bis Weinen das Leben in Fülle“.

Nachfolgerin Müller-Speers in der Leitung des Fachbereichs, der nun Teilhabe und Beratung heißt, wird nach einer sechs Monate dauernden Übergangszeit und Arbeit im Tandem ist Kirsten Liebmann. Die ausgebildete Kinderkrankenschwester hat Erziehungswissenschaften studiert und in der Beratung von Folteropfern ebenso gearbeitet wie in der Beratung von Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung. Seit 2019 arbeitet Liebmann im Caritasverband Rhein-Sieg.