Spurensuche in ViersenSandra M. redet sich im Verhör um Kopf und Kragen

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Viersen Warum dpa

Plüschtiere liegen vor einer Kita in Viersen.

  • Obwohl die Verdächtige bereits nach den ersten Wochen im Kita-Job als ungeeignet eingestuft wird, arbeitet sie weitere drei Jahre als Erzieherin.
  • Im Verhör mit der Polizei machte Sandra M. keine gute Figur.
  • Inzwischen sorgen zwei Security-Leute für Ordnung vor dem Tatort.

Viersen/Kempen/Mönchengladbach – Eine Neubausiedlung am Waldrand, Tempo 30, näher an der holländischen Grenze als am nächsten deutschen Ort. Große Autos parken dort vor noch größeren Häusern, gepflasterte Einfahrten, kein Mensch zu sehen, es ist still an diesem Freitag, nur ein paar Hunde kläffen erschöpft hinter den hohen Zäunen.

Hier soll sie zusammen mit ihren Eltern gewohnt haben, die Erzieherin Sandra M., bevor sie verhaftet wurde, weil sie Greta F. tödlich verletzt haben soll, absichtlich, während des Mittagsschlaf, in der Notbetreuung einer Kindertagesstätte in Viersen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen heimtückischen Mordes.

Was ist am 21. April genau passiert?

Laut Polizei und Staatsanwaltschaft war Sandra M. ab 13.30 Uhr mit dem Mädchen allein. Um 14.45 Uhr rief sie Kolleginnen herbei. Greta atmete nicht mehr. Die Betreuerinnen reanimierten das Kind, der Notarzt kam. Atemstillstand, diagnostizierte er. Im Krankenhaus bemerkten Mediziner rote Pünktchen auf Gretas Haut, im Gesicht, auf den Lidern. Petechiale Einblutungen. Ein Anzeichen auf Sauerstoffmangel nach Gewalteinwirkung.

Nach und nach vernahm eine Kommission für Tötungsdelikte die Kita-Betreuerinnen. Das Hauptaugenmerk galt Sandra M.: Sie war die Letzte gewesen, die Greta lebend gesehen hatte. Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ soll sich Sandra M. im Verhör um Kopf und Kragen geredet haben. So habe sie angegeben, die roten Punkte – und damit die Anzeichen für Gewalteinwirkung – bei Greta wahrgenommen zu haben. Zudem habe sie bekundet, dass niemand sonst den Schlafraum zum fraglichen Zeitraum durchquert habe. M. wurde festgenommen und schweigt zu den Vorwürfen. Am 4. Mai, einen Tag nach ihrem dritten Geburtstag, starb Greta in der Klinik.

Verdächtige Fälle aus dem Jahr 2017

Die Polizei erweiterte ihre Ermittlungen und stellte fest: Seit 2017 passierten weitere verdächtige Fälle in Kindertagesstätten, in denen M. tätig war. In ihrer ersten Arbeitsstelle in Krefeld sollen Erzieherinnen einen Jungen während des Mittagsschlafs mit verdrehten Augen vorgefunden haben – nicht ansprechbar. M. war für seine Aufsicht zuständig. Ein Mädchen aus einer Kita in Tönisvorst soll ihrem Vater erzählt haben, M. habe „sehr feste auf ihren Bauch gedrückt“. In einer Kita in Kempen musste ein zweijähriger Junge viermal mit Atemnot und Krampfanfällen ins Krankenhaus gebracht werden. Eine Vermutung auf Epilepsie bestätigte sich nicht. Weder die Kita-Leitung, noch Jugendbehörden oder Ärzte schöpften Verdacht.

Anfangs hatte die Stadt Kempen entsprechende Vorkommnisse dementiert, inzwischen aber ruderte man zurück. Den Vorschriften gemäß werde jede Unfallanzeige über das Jugendamt an die Unfallkasse weitergeleitet. Da der behandelnde Arzt keine Rückmeldung auf den Verdacht von Fremdeinwirkung gegeben habe, sei man auch nicht tätig geworden, erklärt man.

Neuer Verdacht tut sich auf

Inzwischen aber tut sich ein neuer Verdacht auf. Zwei weitere Schützlinge der Kempener Kita sollen Sandra M. zum Opfer gefallen sein. „Bei uns hat sich der Vater eines Kindes gemeldet, der nun dazu vernommen werden soll“, sagte Oberstaatsanwalt Lothar Gathen dieser Zeitung. Auch habe er von einer Bekannten berichtet, deren Kind Ähnliches widerfahren sein soll.

Üblicherweise müssen Unfälle und gewaltsame Vorfälle in Einrichtungen an das Landesjugendamt gemeldet werden. Wie die Behörde aber auf diese Hinweise reagierte, bleibt unklar. Bisher hält man sich mit Hinweis auf die Ermittlungen bedeckt.

Nur zweieinhalb Kilometer von M.s Wohnort liegt der Tennisklub, in dem die Beschuldigte gespielt hat. Zweite Damenmannschaft. Auf Google findet man noch Berichte der Lokalzeitung über ihre Match-Siege. Der Verein hat jede Spur von ihr von seiner Seite gelöscht. Das Gelände ist abgesperrt, das Metalltor geschlossen.

Wie konnte Sandra M. so lange unbemerkt abtauchen?

Die Frage ist: Wie konnte Sandra M. so lange unbemerkt unter dem Warnradar der Kollegen und der kommunalen Aufsichtsbehörden abtauchen? Bereits in ihrem Anerkennungsjahr in einer Krefelder Einrichtung soll sie negativ aufgefallen sein. Für den Erzieherberuf galt sie als völlig ungeeignet. Dennoch schaffte sie ihren Abschluss und bekam immer wieder neue Jobs. Der akute Personalnotstand, so Experten, habe zu gänzlich unterschiedlichen Bewertungskriterien in den Ausbildungsstätten geführt. Die Stadt Krefeld will mit Bezug auf die laufenden Ermittlungen keine Stellung abgeben.

Klaus Bremen, Vorsitzender des Deutschen Kita-Verbandes NRW, kritisiert im Gespräch mit dieser Zeitung, negative Bewertungen seien in Zeugnissen arbeitsrechtlich nicht erlaubt. Eine mangelnde Eignung könne deshalb zunächst gar nicht auffallen. Bremen fordert, arbeitsrechtliche Vorschriften dahingehend zu ändern. Vor einer pauschalen Angst-Hysterie unter den Eltern warnt der Verbandsvorsitzende: „Die junge Frau in Viersen ist nach heutigem Kenntnisstand ein Einzelfall.“ Neben dem Auswahlverfahren sorge ein Netz von Kinderschutz-Fachkräften dafür, dass das Wohl der Kinder im Blick bleibe.

Zwei Security-Leute vor der Kita

Bis zum Kindergarten in Viersen, in dem M. arbeitete, sind es mit dem Auto 45 Minuten Fahrt. Vor der Kita steht eine Mutter mit ihren zwei Kindern. Sie falten die Hände. Die zwei Security-Leute, die seit dem Bekanntwerden des Falls vor der Kita Wache schieben, hauptsächlich um Eltern und Kinder vor Journalisten zu schützen, lassen sie gewähren, auch wenn die beiden gar nicht in die Kita gehen, wie die Mutter sagt. Sie sind nur gekommen, um kurz zu trauern. Ein bisschen Anteil zu nehmen.

Dutzende Steine liegen um das Gebäude herum verteilt, bemalt in Kinderschrift: Kleiner Engel Greta Ruhe in Frieden. Du bist für immer in unseren Herzen. Flieg kleiner Schmetterling Greta.

Sandra M. kündigte am 30. April

Die Stadt Viersen als Träger der Einrichtung, in der Greta starb, hat in einer weitreichenden Stellungnahme weitere Details zum Beschäftigungsverhältnis der Tatverdächtigen mitgeteilt: Demnach hatte Sandra M. am 1. Januar 2020 bei der Kita Steinkreis angefangen. Zum 30. April hatte sie gekündigt, weil ihr das Konzept nebst der Größe nicht zusagte.

„Die Auswahl erfolgte in dem üblichen, standardisierten Verfahren“, so ein Stadtsprecher. „Dabei ergaben sich aus Sicht der Stadt Viersen keinerlei Anhaltspunkte für Bedenken.“

Zeugnisse von einzelnen Vorarbeitgebern haben nicht vorgelegen, was niemand ungewöhnlich fand. Arbeitszeugnisse würden oft erst mit zeitlicher Verzögerung erstellt. Für zum Zeitpunkt der Bewerbung bestehende, ungekündigte Arbeitsverhältnisse lägen regelmäßig keine Zeugnisse vor. Sandra M. habe die geforderten Unterlagen vorgelegt, heißt es weiter. Zudem würden Mitarbeiter in der Probezeit „eng begleitet und beobachtet. Auch finden in dichter Folge Personalgespräche statt. All diese Vorgänge werden dokumentiert“. Beschwerden von Eltern seien nicht bekannt.

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Laut Polizei beschrieb die Mutter ihre Greta als „lebenslustiges, aktives, gesundes, robustes Kind“. „Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es Dir sein als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache“, hat sie in die Traueranzeige schreiben lassen.

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