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Meistgelesen 2022Vergewaltigungen im Klinikum Bethel – „Was mir passierte, hätte man verhindern können“

Lesezeit 17 Minuten
Ein Assistenzarzt im Klinikum Bethel betäubte und vergewaltigte dutzende Frauen.

Ein Assistenzarzt im Klinikum Bethel betäubte und vergewaltigte dutzende Frauen.

  • Der Assistenzarzt Philipp G. hat im Klinikum Bethel 29 Frauen betäubt, gefilmt und vergewaltigt. Nachdem seine Taten aufflogen, beging er Suizid.
  • Erst 15 Monate nach seinem Tod informierten die Behörden die im Klinikum vergewaltigten Frauen über die Taten.
  • Philipp G. soll auch außerhalb des Klinikums dutzende Frauen missbraucht haben. Nach einer gemeinsamen Recherche des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und dem ARD-Politmagazin „Kontraste“ wurden offenbar bis heute nicht alle mutmaßlichen Opfer informiert.
  • Dieser Text ist zuerst am 15. Oktober 2022 erschienen.

„Man geht in ein Krankenhaus und denkt: Hier wird dir geholfen. Niemals hätte ich gedacht, dass mir so etwas geschehen kann.“

Als die Polizistinnen vor ihrer Wohnungstür fragten, ob sie die Jasmin Mahler sei, die im Dezember 2019 im Klinikum Bethel lag, da wusste sie Bescheid. Die Polizistinnen kamen rein. Erzählten von einer Akte, die bei der Polizei Bielefeld liegt, eine Akte, auf der Mahlers Name steht. In der es um Vergewaltigungen und Missbrauch in einem Bielefelder Krankenhaus geht.

Acht Monate später, irgendwo in der Eifel. Die Nacht kriecht langsam zwischen den Hügeln voran. Jasmin Mahler, anfang vierzig, blonde, zurückgesteckte Haare, sitzt am Wohnzimmertisch und erzählt von dem Besuch der Polizistinnen. Von dem Tag, der die Illusion einstürzen ließ, die sie sich über so viele Monate versucht hatte aufzubauen. Sie sei ein Mensch, der verdrängt, sagt Mahler, der einfach funktioniert. Muss sie ja auch, als alleinerziehende Mutter. Sie verdrängte, als sie von der Festnahme von Philipp G. las. Verdrängte die Erinnerungen an G., wie er nachts in ihr Zimmer kam. Wenn er sich auch an ihr vergangen hätte, dachte sie, dann würde man ihr doch Bescheid geben.

Doch das tat die Polizei erst 15 Monate später.

„Ich verstehe es nicht“, sagt Mahler, die eigentlich anders heißt. „Alles, was mir passiert ist, hätte man verhindern können.“

Chronik eines Versagens

Der Assistenzarzt Philipp G. hat dutzende Frauen betäubt, vergewaltigt und seine Taten gefilmt. 29 der Frauen waren zum Tatzeitpunkt Patientinnen im Bielefelder Klinikum Bethel. Nach seiner Festnahme im September 2020 beging er Suizid. Die Staatsanwaltschaft Bielefeld legte den Fall zu den Akten. Den Opfern sagte sie: nichts. Nichts von den Vergewaltigungen, nichts von den Geschlechtskrankheiten, die im Obduktionsbericht von Philipp G. stehen. Bis ihnen der Fall entzogen und im Januar 2022 Polizisten zu allen Frauen geschickt wurden, die im Klinikum vergewaltigt wurden. Auch zu Jasmin Mahler. Sie erstattete Anzeige gegen die Staatsanwaltschaft Bielefeld. Der Vorwurf: Körperverletzung im Amt durch Unterlassen.

Mahler ist nicht die einzige, die heute noch, zwei Jahre nach Philipp G.s Tod, nach Antworten sucht. Nach einer Erklärung, wieso über Monate hinweg Hinweise auf verdächtiges Verhalten von Philipp G. in der Klinik versandeten. Wieso die Ermittlungen bei der Polizei nur schleppend vorangingen. Und wieso die Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren einstellte, ohne die betroffenen Frauen zu befragen. Im Frühjahr 2022 lagen den Behörden acht Strafanzeigen von den Frauen vor: Gegen den Chefarzt und Oberarzt, die Philipp G. lange Glauben schenkten. Gegen die Klinikleitung. Gegen die Polizei Bielefeld. Gegen die Staatsanwaltschaft. Sie bilden die Chronik eines Versagens. 22 anwaltlich vertretene Frauen schlossen sich den Verfahren an.

Die Anzeige, die alles aufdeckte

Acht der Frauen vertritt die Rechtsanwältin Stefanie Höke. Es war die Anzeige von Hökes erster Mandantin, nennen wir sie Lisa Oster, die schlussendlich zu Philipp G.s Verhaftung führte und all seine Taten aufdeckte.

Im Juli 2019 wacht Oster im Klinikum Bethel auf einer kleinen, harten Glasflasche auf. „Propofol“, steht auf dem Etikett. Ein schnell wirkendes Narkosemittel, doch das weiß Oster damals noch nicht. Sie macht ein Foto von dem Fläschchen, ruft eine Pflegerin, zeigt ihr die Ampulle. Die Schwester nimmt das Fläschchen und geht. So wird es Oster später ihrer Anwältin berichten.

Zwei Monate später. Lisa Oster wird erneut im Klinikum Bethel aufgenommen, Neurologie. Gegen 22 Uhr betritt Philipp G. das Zimmer von Oster und ihrer Bettnachbarin. Er müsse ihnen beiden noch einen Zugang legen, sagt er, morgen gehe es für sie ja ins MRT. Als er Oster etwas in den Zugang spritzt, verliert sie innerhalb von Sekunden das Bewusstsein. Hört nicht mehr, wie ihre Bettnachbarin entsetzt ruft, was hier denn geschehe. Der junge Arzt beschwichtigt sie, das passiere ihr immer, die Frau Oster reagiere leider so auf die Kochsalzlösung. Dann legt er auch der Bettnachbarin einen Zugang. Als beide am nächsten Morgen aufwachen, fühlen sie sich schlecht, klagen über Schüttelfrost und grippale Symptome.

„Mensch, das war doch ganz merkwürdig, was hier letzte Nacht passiert ist.“

Lisa Oster zeigt das Foto von der Flasche Propofol, die in ihrem Bett lag, damals im Juli. Die Bettnachbarin, eine Apothekerin, reagiert alarmiert: Sie klingeln, rufen eine Krankenschwester ins Zimmer. Erzählen von Philipp G.s nächtlichen Besuch, von dem Propofol, davon wie Lisa Oster bewusstlos wurde, wie merkwürdig sie sich beide fühlen. Die Schwester ist schockiert, muss sich setzen. Jetzt könne sie sich einen Reim daraus machen, wieso Philipp G. am Vorabend so lange geblieben ist, sagt sie. Der hatte doch längst Feierabend.

„Wieso sollte der mich sonst betäuben?“

Sie geht hinaus, kommt mit dem Oberarzt zurück, die Frauen erzählen erneut. Auch der Oberarzt reagiert entsetzt, er wolle mit dem Chefarzt sprechen. Eine halbe Stunde später kommt er wieder zurück. Ohne Chefarzt. Hinter ihm betritt Philipp G. das Zimmer. Der Oberarzt scheint wie ausgewechselt. Das gestern hatte alles seine Ordnung, sagte er, der Zugang musste gelegt werden. Lisa Oster habe wohl eine falsch temperierte Kochsalzlösung bekommen und sei deshalb ohnmächtig geworden.

Lisa Oster wird lauter, sie fühlt sich nicht ernst genommen. Sagt, sie könne den Gedanken nicht ertragen, dass G. in den nächsten Nächten wieder Dienst haben könnte. Als sie rechtliche Schritte ankündigt, fragt der Oberarzt, ob sie Philipp G. wirklich mit solchen Vorwürfen die Zukunft verbauen möchte. Oster entlässt sich selbst aus der Klinik. Geht zur Polizeiwache, erstattet Anzeige gegen Philipp G. und wendet sich an die Rechtsanwältin Stefanie Höke. An eine Vergewaltigung denkt sie da noch nicht. „Im schlimmsten Fall“, sagt Oster damals zu Höke, „hat der mir die Kleidung hochgezogen und Fotos gemacht. Wieso sollte er mich sonst betäuben?“

Die Beamten leiten ein Ermittlungsverfahren gegen Philipp G. ein. Vorwurf: Falsche Medikamentengabe und Körperverletzung. Die Akte, sagt Höke, blieb bei der Polizei „mehr oder minder ein halbes Jahr liegen“. Eine ihrer Mandantinnen wird später auch Anzeige gegen die Polizei Bielefeld erstatten. Hätten die Beamten nicht monatelang mit der Durchsuchung gewartet, begründet sie die Strafanzeige, wäre sie nie vergewaltigt worden.

Nach einer gemeinsamen Recherche mit „Kontraste“ wurde Philipp G. schon auffällig, bevor er seine Stelle in Bethel antrat: Die Staatsanwaltschaft Krefeld ermittelte bereits 2016 gegen G. wegen sexueller Nötigung. Eine Patientin warf ihm vor, sie durch eine Infusion betäubt und anschließend missbraucht zu haben. Die Ermittlungen wurden aus Mangel an Beweisen eingestellt.

„Er schaute mir nie in die Augen“

Dezember 2019. Jasmin Mahler sieht Doppelbilder, schon seit Tagen plagen sie unerträgliche Kopfschmerzen. Als würde jemand mit einem Messer neben ihr stehen und es ihr wieder und wieder in den Schädel rammen. Eine Woche liegt sie in einem Klinikum nahe der Eifel, eine Gesichtshälfte ist gelähmt, in ihrem Hirnwasser finden die Mediziner einen Entzündungswert von 595. Normal wäre ein Wert von fünf.

Bombenfund im Eifelort. Das Krankenhaus wird evakuiert. Mahlers Mutter, Krankenschwester im Klinikum Bethel in Bielefeld, organisiert ihrer Tochter ein Bett auf der Neurologie. Gegen Mitternacht untersucht Philipp G. Jasmin Mahler in der Notaufnahme. Er sieht ungewaschen aus, erinnert sich Mahler, übermüdet. „Was ich merkwürdig fand: Er schaute mir nie in die Augen.“ Philipp G. legt ihr einen Zugang, dann entlässt er sie auf ein Einzelzimmer der Station.

Mitten in der Nacht schreckt Mahler hoch. Philipp G. steht neben ihrem Bett. Legt seine Hand an ihre Wange, streichelt ihr über den Arm. Guckt ihr in die Augen, ganz tief. Er wolle einfach nach ihr sehen, sagt er, ihr etwas gegen die Schmerzen geben. Ja, murmelt Mahler, ein Schmerzmittel, das wäre gut. Danach weiß sie nichts mehr.

Am nächsten Morgen geht es ihr noch schlechter als am Vortag, sie zittert, fühlt sich, als hätte sie sich zu all den Schmerzen eine Grippe eingefangen. Wenige Tage später wird Mahler auf ein Zweibettzimmer verlegt.

„Sie haben eine Krankenhausdepression entwickelt“, sagt die Schwester

Die beiden Frauen erwachen, als Philipp G. mitten in der Nacht das Licht anschaltet. „Was soll das?“, ruft Mahlers Bettnachbarin, „können sie uns nicht schlafen lassen?“ Er müsse die Zugänge spülen, erwidert Philipp G. entschuldigend, das sei wichtig, bei manchen Patienten verstopfe er. „Mitten in der Nacht?“, fragt Mahler „Das ergibt doch keinen Sinn.“ Dann weiß sie nichts mehr. Sieht nur noch eine Szene, die sie am nächsten Morgen für einen Albtraum hält. Ein Mann in weißem Arztkittel, der sich über ihre Bettnachbarin beugt, sich auf sie legt. Mahlers Blick bemerkt und zu ihr hinüber rennt.

Als Jasmin Mahler die Augen wieder öffnet, blicken ihr zwei Pflegerinnen entgegen. „Sie haben ja einen tiefen Schlaf“, sagt die eine, es hätte einige Minuten gebraucht, um sie zu wecken. Den beiden Patientinnen geht es schlecht, irgendwie grippig, sie zittern. Mahler erzählt einer Pflegerin von ihrem Albtraum. „Und können Sie uns bitte erklären, wieso ein Arzt mitten in der Nacht hereinkommt, um unsere Zugänge zu spülen?“

Die Schwester guckt verwirrt. Da haben Sie echt einen komischen Albtraum gehabt, sagte sie. Erstens komme niemand nachts hinein, wenn das nicht angeordnet wurde. Und zweitens würde der Arzt dann keine Zugänge spülen. Die zwei Frauen widersprechen, sie hätten den Mann doch beide gesehen, es sei der Arzt gewesen, der Mahler in der Notaufnahme untersucht hatte. Die Pflegerin glaubt ihnen nicht. „Sie beide haben eine Krankenhausdepression entwickelt“, sagt sie. „Gehen Sie doch mal an die frische Luft für einen Spaziergang.“ Doch Mahlers Bettnachbarin bleibt den Tag über im Bett und weint. Wieso, weiß sie nicht.

Nach dreieinhalb Wochen im Krankenhaus entlassen die Ärzte Jasmin Mahler. Sie fährt zurück in die Eifel, fängt eine Therapie an, um ihre gescheiterte Ehe zu verarbeiten und kehrt in ihren alten Job zurück. Ein Mann auf ihrer Arbeitsstelle stellt ihr nach, versucht sie anzufassen, sie alleine aufzufinden. Er „hilft“ ihr bei Aufgaben, stellt sich dabei direkt hinter sie, so nah, dass sie eigentlich laut schreien will. Doch das tut sie nicht. Sie erstarrt, wehrt sich nicht. Und weiß nicht, wieso.

Im Frühjahr beginnen die starken Schmerzen im Unterleib. Jasmin Mahler geht zu Gynäkologen und Urologen, doch niemand kann eine Ursache für ihre Qualen finden. „Es war zum Verzweifeln.“ Alle halbe Stunde muss sie auf die Toilette, bei Autofahrten springt sie aus dem Wagen und rennt ins Gebüsch. Die Nächte schläft sie nicht mehr durch.

Die Staatsanwaltschaft entscheidet sich dagegen, die Frauen zu informieren

April 2020. Sieben Monate nach Lisa Osters Anzeige durchsuchen Polizisten Philipp G.s Wohnung und seinen Spind im Krankenhaus, sie beschlagnahmen eine Festplatte. Das Klinikum Bethel suspendiert den Assistenzarzt, kurz darauf reicht er selbst seine Kündigung ein. Es vergehen Monate, bis die Beamten es schaffen, die Dateien auf den Festplatten zu öffnen. Sie finden hunderte Videos von Vergewaltigungen und Missbrauch, beschriftet mit den Namen der Frauen. Darunter sind die von Jasmin Mahler, Lisa Oster und ihren Bettnachbarinnen. Das letzte Video nahm G. kurz vor der Durchsuchung im April 2020 auf.

September 2020. Die Polizei nimmt Philipp G. fest, in der zweiten Nacht der Untersuchungshaft nimmt er sich das Leben. Im Obduktionsbericht steht: G. hatte Geschlechtskrankheiten, Mycoplasma hominis und Mycoplasma genitalium. Die Staatsanwaltschaft selbst hatte darauf bestanden, dass der Leichnam auf Geschlechtskrankheiten getestet wird. Unbehandelt können die entdeckten Krankheiten starke Entzündungen und Unfruchtbarkeit hervorrufen.

Trotzdem entscheidet sich die Staatsanwaltschaft dagegen, die vergewaltigten Frauen darüber zu informieren. Traumatherapeuten hätten davon abgeraten, habe die Staatsanwältin zu Stefanie Höke gesagt. Gespräche mit Experten vermerken die Ermittler eigentlich stets in den Akten. Später, sagt Höke, stellte sich laut der Staatsanwaltschaft Duisburg heraus: Solche Akteneinträge gibt es nicht.

„Die Staatsanwaltschaft wusste von den Geschlechtskrankheiten, sie wusste, dass die Frauen diese Krankheiten weitertragen können“, sagt Höke. „Selbstverständlich hat man dann die Pflicht die Frauen zu informieren. Von den psychischen Auswirkungen der nicht-Information ganz zu schweigen.“ Ob beabsichtigt oder nicht: Die Staatsanwaltschaft schützte die Klinik nicht die Frauen, so Höke. Frauen, die nicht wissen, dass sie vergewaltigt wurden, können keine Konsequenzen fordern, keine Ansprüche auf Schmerzensgeld und Schadenersatz stellen.

Hinweise auf verdächtiges Verhalten von Philipp G. versandeten

Nur wenige Frauen melden sich selbstständig bei der Polizei als der Fall publik wird, fragen, ob sie zu G.s Opfern zählen. Die Beamten bestätigten es ihnen. Sie erstatten Anzeige gegen den Chefarzt und Oberarzt wegen Beihilfe zur Vergewaltigung durch Unterlassen. Bei ihrer Entlassung habe sie dem Chefarzt und dem Oberarzt sogar noch gedankt, sagt eine Frau. Ihnen erzählt, ein Arzt sei in der Nacht in ihr Zimmer gekommen, um ihr eine Infusion zu geben. Dadurch konnte sie endlich durchschlafen. Chefarzt und Oberarzt schauten irritiert, sie habe keine Infusion bekommen, das würde in der Akte stehen. Doch, das habe sie, beteuerte die Frau. Sie glaubten ihr nicht.

Es war nicht das erste Mal, dass Mitarbeiter des Krankenhauses verdächtiges Verhalten von Philipp G. bemerkten. Eine Pflegerin wunderte sich, weil sie im Infusionsschlauch einer jungen Patientin eine milchige Flüssigkeit bemerkte. Kein Medikament auf dieser Station ist milchig-weiß. Eine Schwester fand G. nachts in einem stockdunklen Patientinnenzimmer, eine grüne Spritze in der Hand, ein Laken über den Schwenkarm zwischen den Betten gehangen. Philipp G. fand immer eine Ausrede. Manche Pflegerinnen blieben trotzdem misstrauisch, durchsuchten den Mülleimer nach verdächtigen Ampullen. Und fanden nichts.

In einer Nacht Anfang Januar 2020 beobachteten zwei Pflegerinnen, wie Philipp G. ein Infusionstablett mit Zugängen nimmt und im Zimmer von Mahlers frühere Bettnachbarin verschwindet. Keine der Schwestern hatte nach einem Arzt gerufen. Zwei Wochen später, so steht es in einem internen Protokoll, stellen Chefarzt, Oberarzt und eine Oberärztin Philipp G. zur Rede. Er windet sich heraus, tut so, als hätte er sich im Zimmer geirrt. Seine Vorgesetzten reagieren mit Unverständnis. Falsche Zugänge legen, das sei Körperverletzung. Nach eineinhalb Stunden gehen sie mit einem Beschluss auseinander: Der junge Arzt dürfe kein Propofol mehr einsetzen und Patientinnenzimmer nur noch gemeinsam mit einer Pflegerin betreten. Und überhaupt: Er solle nachts nicht einfach die Zugänge von Patienten spülen. Trotzdem vergewaltigt Philipp G. auch in den kommenden Monaten Patientinnen – ohne, dass es irgendjemand bemerkt.

Jasmin Mahlers Therapeut vermutete eine unterbewusste Traumatisierung

An kaum einem Ort ist ein Mensch so wehrlos, so schwach wie in einem Krankenhaus. Philipp G. nutzte diese Wehrlosigkeit aufs Schlimmste aus. Nutzte das Vertrauen, dass seine Patientinnen in ihn als Arzt setzten und zerstörte es. Verletzte die Frauen auf eine Art, die sie lange Zeit selbst nicht verstanden. Schon bevor Jasmin Mahler von der Vergewaltigung erfuhr, vermutete ihr Therapeut eine tiefe, unterbewusste Traumatisierung. Bei einer anderen Frau wurde nach dem Aufenthalt in Bethel das Papillomvirus festgestellt, welches Gebärmutterhalskrebs auslösen kann. Die Frau war fassungslos, verstand nicht, wie sie sich infizieren konnte – sie hatte ihren Mann doch nie betrogen. Eine weitere Patientin sagte den Polizisten, sie ertrug nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus die Nähe ihres Freundes nicht mehr. Sein Geruch stieß sie ab.

Das Klinikum schreibt auf Anfrage, weder die Pflegedienstleitung noch die ärztliche Leitung habe im Juli 2019 von der Propofol-Flasche in Lisa Osters Bett erfahren. Als Oster im September 2019 Vorwürfe gegen Philipp G. erhob, habe der Oberarzt eine Blutuntersuchung bei der Patientin angeordnet, zudem wurde der Betäubungsmittelverbrauch der gesamten Klinik kontrolliert. „Beide Untersuchungen ergaben keine Auffälligkeiten.“

Bethel habe einen Unterstützungsfond für alle Opfer eingerichtet. „Der Fonds kann erlittenes Leid nicht ungeschehen machen, möchte aber Hilfe zur Verarbeitung der Verbrechen geben.“ Nach Bekanntwerden von Philipp G.s Taten habe das Klinikum eine Taskforce eingerichtet, die Maßnahmen zur Patientensicherheit überprüft, eine Arbeitsgruppe zu sexualisierter Gewalt entwickle ein Präventions- und Bildungskonzept für Angestellte. Alle Mitarbeiter des Krankenhauses müssen an verpflichtenden Fortbildungen über sexualisierte Gewalt teilnehmen. Trotzdem soll es an Silvester 2021 erneut zu einem Missbrauchsfall im Klinikum gekommen sein: Ein Wachmann soll eine psychisch kranke Patientin eingeschlossen und zu sexuellen Handlungen gezwungen haben. Die Ermittlungen dauern an. 

Der Anwalt des Chefarztes drängte derweil auf ein schnelles Ende des Verfahren der Staatsanwaltschaft: Es würde den Ruf seines Mandanten an eine Medizinfakultät behindern.

Justizministerium entzieht Bielefeld und Hamm den Fall 

Im Mai 2021 stellt die Staatsanwaltschaft Bielefeld das Verfahren gegen den Chefarzt und den Oberarzt ein. Stefanie Höke geht in die Beschwerde, doch die Generalstaatsanwaltschaft Hamm bestätigt die Entscheidung aus Bielefeld. Der Fall geht zu den Akten.

Bis sich Ende September 2021 die Dienstaufsicht des Justizministeriums in den Fall einschaltet: Es entzieht der Staatsanwaltschaft Bielefeld die Zuständigkeit und übergibt die Ermittlungen nach Duisburg – ein extrem seltenes Vorgehen. „Die Entscheidung, die Betroffenen nicht zu informieren, war von Anfang an falsch“, sagt Peter Biesenbach, damals Justizminister in Nordrhein-Westfalen, gegenüber „Kontraste“. „Als sich dann auch noch die Geschlechtskrankheit herausstellte, war es sogar evident rechtswidrig. Die Betroffenen hatten ein Anrecht darauf, informiert zu werden.“

Das Justizministerium entzieht auch der Generalstaatsanwaltschaft Hamm den Fall – aus Sorge vor einer möglichen Befangenheit. „Bei uns in der Strafrechtsabteilung entstand der Eindruck, dass gerade die Generalstaatsanwältin sich möglicherweise relativ frühzeitig auf einen Standpunkt festgelegt hatte, den sie zu verteidigen versuchte“, sagt Biesenbach. „Dann sind Argumente gekommen, die aus Sicht der Strafrechtsabteilung absurd waren.“

Jasmin Mahler erfuhr erst über ihre Anwältin von G.s Krankheiten

In Duisburg rollen die Staatsanwälte den Fall neu auf und entscheiden: Alle Frauen, die im Krankenhaus vergewaltigt wurden, werden informiert. Auf Nachfrage begründet die Staatsanwaltschaft Duisburg den Schritt mit den Geschlechtskrankheiten von Philipp G., zudem sei es notwendig, alle Frauen im wiederaufgenommenen Verfahren gegen den Oberarzt, den Chefarzt und die Klinikleitung zu vernehmen. Bei dem ersten Besuch sollten die Frauen jedoch explizit nicht über G.s Geschlechtskrankheiten informiert werden, „um eine Überforderung der Geschädigten zu vermeiden.“ Stattdessen sollten sie in späteren Gesprächen über die Krankheiten aufgeklärt werden.

So verlief selbst die Informierung der Frauen schleppend. Was genau in der Akte über sie stünde wisse sie leider nicht, sagt die Polizistin zu Jasmin Mahler. Dass der Täter Geschlechtskrankheiten hatte, erfährt Mahler nicht von den Ermittlungsbehörden, sondern von Stefanie Höke. Mahler lässt sich erneut testen, diesmal nur auf G.s Krankheiten. Die Kosten, 95 Euro, zahlt sie selbst. Positiv. Ein Arzt verschreibt ihr starke Antibiotika. Es sei zu viel Zeit vergangen, sagt er, die Entzündung könnte von ihrem Unterleib hochwandern, um andere Organe anzugreifen. Im schlimmsten Fall muss ihre Gebärmutter entfernt werden.

Erst im März ruft die Polizistin Mahler wieder an. Berichtet ihr nun auf Bitten von Mahler im Detail, was auf den Videos zu sehen ist. Wie Philipp G. sie mehrfach oral und vaginal missbrauchte und vergewaltigte. Über fünfzig Videos hat er von ihr gemacht, manche ein paar Sekunden lang, andere eineinhalb Minuten, manche in Zeitlupe. Mahler ist wie in Schockstarre. Ruft ihre Mutter an. Hört sie am anderen Ende der Leitung weinen. „Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich dich doch niemals hierhin geholt.“

Tagsüber verdrängt Mahler jetzt die Gedanken daran, was ihr in Bethel geschehen ist, sie funktioniert, für ihren Job, für ihren Sohn. Nachts wecken sie häufig Alpträume. Bilder von Philipp G.s Verbrechen an ihr, die sich in ihrem Kopf geformt haben.

Sie versteht es nicht, sagt Mahler. „Wenn man bei den ersten Anzeichen hellhörig geworden wäre und eingegriffen hätte, dann hätte so viel verhindert werden können.“ Als Jasmin Mahler erfuhr, dass die Staatsanwaltschaft Bielefeld sich dagegen gewehrt hatte, die Frauen zu kontaktieren, sei sie furchtbar wütend geworden. Hätten die Polizisten 15 Monate früher geklingelt wäre ihr einiges erspart worden, sagt Mahler. Sowohl körperlich als auch seelisch.

Die Polizei fand auf G.s Festplatte eine Liste mit 80 Frauennamen

Wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ und „Kontraste“ aus Ermittlerkreisen erfuhren, fanden die Behörden auf Philipp G.s Festplatte Videos mit zahlreichen weiteren Opfern außerhalb des Klinikums. Die Videos, in denen Philipp G. bewusstlose Frauen vergewaltigt, hat er mit insgesamt 40 Klarnamen beschriftet. 29 davon sind Opfer aus Bethel. Zudem hatte er auf der Festplatte Fotos von Personaldokumenten der Frauen abgespeichert, Fotos und Videos von sexuellen Nötigungen. Und eine Liste, seit 2013 geführt. Mit 80 Frauennamen. Daneben: Notizen, die darauf schließen lassen, dass G. diese Frauen nötigte oder vergewaltigte.

Auf die Frage, ob auch diese Frauen von der Vergewaltigung wissen, von den Videos, auf denen sie zum Teil sediert zu sehen sind, von Philipp G.s Geschlechtskrankheiten, ob die Staatsanwaltschaft Duisburg die Frauen kontaktierte, seit sie vor über einem Jahr den Fall zugeteilt bekam, antwortet sie nur: „Die Prüfung, ob es auch außerhalb des Klinikums zu Straftaten des Verstorbenen gekommen ist, dauert noch an.“ Damit sei aus Sicht der Staatsanwaltschaft unklar, ob und wie viele weitere mögliche Opfer es gibt.

Sucht man heute im Internet nach Philipp G.s vollem Namen, findet man kaum etwas. Eine Todesanzeige, aufgesetzt von einem ahnungslosen Schützenverein. Durchsetzt von Lügen, die Angehörige den Schützen über Philipp G. und seinen Tod erzählten. Ansonsten: Nichts. Nichts soll an ihn, an sein Leben, erinnern. Sein Name wurde ausradiert. Zerknüllt und in den Wegwerfeimer des Internets geworfen. Die Aufklärung seiner Verbrechen dagegen scheint auch zwei Jahre nach seinem Tod noch am Anfang zu stehen. 

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