Interview mit FachanwaltMuss VW nun Millionen von Diesel-Pkw nachrüsten?

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Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im Dieselskandal ein wegweisendes Urteil gefällt.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Abgasmanipulation bei VW hat viele Spekulationen ausgelöst. Manche glauben, dass der Diesel-Skandal für die Hersteller jetzt erst richtig teuer wird. Doch für derartige Aussagen ist es noch zu früh. Klar ist immerhin, dass sich das Thema erweitert hat. Ein Gespräch mit Remo Klinger, Fachanwalt für Verwaltungsrecht in Berlin.

Herr Klinger, muss VW nach dem Abgasurteil des EuGH von voriger Woche nun Millionen von Diesel-Pkw nachrüsten?

Remo Klinger: Davon bin ich als Anwalt der Deutschen Umwelthilfe (DUH) überzeugt. Anordnen kann dies aber nur das Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg. Dort wird das EuGH-Urteil leider noch anders interpretiert. Daher muss das Amt wohl durch die Gerichte dazu gezwungen werden.

Was hat der EuGH konkret entschieden?

Die Abgasreduktion von Motoren darf nur abgeschaltet werden, um den Motor vor „plötzlichen und außergewöhnlichen Schäden“ zu schützen. Der Schutz vor Verschmutzung und Versottung des Motors reiche nicht aus.

Und warum muss das Urteil zu einer Rückruf-Aktion bei so vielen PKW führen?

Weil in fast jedem VW-Diesel-Motor weiterhin unzulässige Abschalteinrichtungen vorhanden sind. Sie sorgen dafür, dass die Abgasreduktion nur bei warmem Wetter funktioniert und abgeschaltet wird, wenn es etwas kühler wird – also meistens. Mit diesen sogenannten „Thermofenstern“ sind die Abgasgrenzwerte von den Fahrzeugen natürlich nicht einzuhalten.

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Hat der EuGH explizit die Thermofenster für unzulässig erklärt.

Der EuGH musste über die Anfrage eines Gerichts aus Frankreich entscheiden. Dort ging es um eine Abschalteinrichtung, die dafür sorgte, dass die Abgasreduktion nur auf dem Prüfstand funktionierte, nicht aber im normalen Fahrbetrieb. Die Antwort des EuGH ist aber universell und natürlich auch auf Thermofenster anwendbar.

Welche Hersteller nutzen Thermofenster?

Wir gehen davon aus, dass alle Diesel-Hersteller solche Thermofenster nutzen.

Und was sagt das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) zu den Thermofenstern?

Das KBA übernimmt – wie meistens – die Argumentation der Auto-Industrie. Das Amt hält Thermofenster immer noch für zulässig, weil ein Motor, der zunehmend versottet, irgendwann auch akut geschädigt werde. Das hat der EuGH aber sicher nicht gemeint. Dann würden die Abgasvorschriften ja weiter leerlaufen.

Gegen die Betrugssoftware von VW, die dafür sorgte, dass die Abgasreduktion nur auf dem Prüfstand funktioniert, ist das KBA aber vorgegangen.

Das stimmt. Das Amt hat im Herbst 2015 angeordnet, dass VW seine Diesel-Motoren in einen rechtmäßigen Zustand versetzen muss, weil sonst die Typengenehmigung widerrufen werde. Darauf hat der VW-Konzern für 80 verschiedene Fahrzeug-Typen Software-Lösungen entwickelt, die das KBA jeweils freigegeben hat. In diesen Freigabebescheiden hat das Amt allerdings ausdrücklich anerkannt, dass noch weitere Abschalteinrichtungen in den Motoren verbaut sind, die zulässig seien.

Und was ist seitdem passiert?

Die DUH hat beim Verwaltungsgericht (VG) Schleswig gegen die 80 Freigabebescheide für VW geklagt, ebenso gegen 28 Freigabebescheide für Daimler und zu mehreren Modellen bei Opel. Leider müssen wir in den Prozessen erst noch eine Grundsatzfrage klären.

Welche?

Es ist noch umstritten, ob die DUH in dieser Konstellation überhaupt klagen darf. Das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz sieht vor, dass Umweltverbände nicht gegen die Typengenehmigung von Autos klagen können. Das hat Verkehrsminister Scheuer 2017 durchgesetzt. Wir gehen aber davon aus, dass sich die Klagebefugnis der DUH aus europäischem und internationalem Recht ergibt – der sogenannten Aarhus-Konvention.

Wer entscheidet darüber?

Das VG Schleswig hat Ende 2019 einen Musterfall dem EuGH zur Klärung vorgelegt. Ich bin sicher, dass der EuGH bald in unserem Sinne entscheiden wird. Und dann wird wohl auch das VG Schleswig die Thermofenster für illegal erklären.

Und dann kommt der große Rückruf?

VW wird sicher erst mal durch die Instanzen gehen, bis zum Bundesverwaltungsgericht. Aber dann muss das Kraftfahrt-Bundesamt die Nachrüstung aller Diesel-PKW anordnen.

Können Dieselkäufer dann auch Schadensersatz verlangen?

Das steht auf einem anderen Blatt. Der Bundesgerichtshof hat zwar im Mai 2020 entschieden, dass VW viele Dieselkäufer „vorsätzlich sittenwidrig“ geschädigt hat und deshalb schadensersatzpflichtig ist. Das bezog sich aber auf die Prüfstand-Software. Vieles spricht dafür, dass dies auf die Thermofenster zu übertragen ist.

Das Gespräch führte Christian Rath

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