Amerikas freundliches GesichtJoe Biden übernimmt ein Land am Rande des Bürgerkriegs

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Joe Biden

  • Der neue US-Präsident Joe Biden übernimmt ein aufgewühltes Land, das am Rand eines Bürgerkriegs steht.
  • Der 78-Jährige will die polarisierte Gesellschaft der USA aussöhnen. Wie groß ist die Bereitschaft der Republikaner im Senat, daran mitzuarbeiten?

Die ehrwürdigen Statuen an den Wänden der Rotunde sind mit Spezialreiniger gesäubert, die Kuppelhalle unter dem grandiosen Deckenfresko wird für die Fernsehkameras hell ausgeleuchtet. Im Herzen des Kapitols wirkt alles so wie immer kurz vor dem großen Tag. Alles bereit. Fast alles.

In den Korridoren zwischen den Flügeln des Prachtbaus bot sich am Wochenende ein gespenstisches Bild: Während auf der Westseite rote Stoffvorhänge in die Fensterbögen drapiert wurden, waren die Holzrahmen gen Osten notdürftig mit Brettern vernagelt. Durch eine geborstene Scheibe sah man eine Heerschar von Nationalgardisten.

Amtseid ohne das Volk

Kein patriotischer Pomp, kein rot-weiß-blaues Fahnenmeer und keine Nationalhymne von Lady Gaga können an diesem Mittwoch die schweren Verletzungen überdecken, die Amerikas Demokratie beim Putschversuch vom 6. Januar erlitten hat. Der neue Präsident Joe Biden wird um 12 Uhr mittags seinen Amtseid ablegen – ohne das Volk als Zeugen.

Die National Mall, die sich von der Inaugurationsbühne am Fuße des Kapitols bis zum Lincoln Memorial erstreckt und sonst Hunderttausende Schaulustige anzieht, ist abgeriegelt. Gesperrte Brücken, Zufahrtsstraßen, Bahnstrecken, Stationen – ganz Washington gleicht einem Hochsicherheitstrakt.

Das Land draußen ist zerrissen wie nie. Während der eine Teil der Amerikaner vor dem Fernseher erleichtert das Ende der deprimierenden Trump-Zeit verfolgen dürfte, kocht der andere vor Wut oder sinnt gar auf eine blutige Revolte. Ein Drittel aller US-Bürger und zwei Drittel der republikanischen Wähler sind laut einer aktuellen Umfrage des Pew-Instituts trotz aller offiziellen Beurkundungen, Neuauszählungen und Gerichtsurteile überzeugt, dass Donald Trump die Wahl gewonnen hat.

Eine Gesellschaft im Wahn; ein Land am Rande des Bürgerkriegs; dazu eine ungebremst wütende Pandemie, die täglich 3000 bis 4000 Menschen das Leben kostet und Millionen in Hunger und Armut gestürzt hat: Schwieriger könnte die Ausgangslage für den 46. Präsidenten der USA kaum sein. „Ich bleibe optimistisch“, hat Joe Biden am Donnerstag in einer kämpferischen Rede gesagt: „Wir werden nicht aufgeben. Wir werden zurückkommen. Aber wir werden es nicht über Nacht schaffen, und nicht als eine gespaltene Nation.“

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Mit dem Versprechen einer „großen, wunderbaren Mauer“ hatte Donald Trump vor vier Jahren seine Präsidentschaft begonnen. Sein Nachfolger will sich als Brückenbauer betätigen. „We are better than that!“ (Wir sind besser als das) lautet seit den ersten Tagen seiner Kandidatur Bidens Mantra. Die Trump-Präsidentschaft sieht der 78-Jährige als historischen Irrweg. Er will das öffentliche Fieber senken und das Land zur Normalität zurückführen. Konsequent hat er direkte persönliche Auseinandersetzungen mit seinem Vorgänger vermieden. „Er wird eine Botschaft der Einheit verbreiten“, kündigt Bidens künftiger Stabschef Ronald Klain denn auch den Tenor der Inaugurationsrede an.

Das klingt – unter Terroralarm in einer von 26 000 Nationalgardisten belagerten Stadt – wahlweise blauäugig oder ambitioniert. Doch weder für das Land noch für den Präsidenten gibt es eine Alternative. Jedenfalls nicht, wenn Biden etwas bewegen will. Für alle wichtigen Gesetzgebungsvorhaben ist er auf den Kongress angewiesen, in dessen zwei Häusern die Demokraten nur hauchdünne Mehrheiten besitzen. Im Senat herrscht ein Patt von je 50 Stimmen zwischen beiden Parteien, das die neue Vizepräsidentin Kamala Harris theoretisch zugunsten der Demokraten auflösen kann. Doch viele Vorhaben benötigen eine 60-Stimmen-Mehrheit, und zudem sitzen auf den Demokratenbänken auch einige Wackelkandidaten, die schon mal gegen die eigene Partei stimmen, wenn“s gut für den eigenen Staat ist.

Biden kennt den Senat wie kein Zweiter. In seinen 36 Jahren in der Kammer hat er an vielen überparteilichen Kompromissen mitgearbeitet. Nun hofft er auf Allianzen mit moderaten Republikanern. Viele Wünsche des linken Demokratenflügels wird der Pragmatiker dabei allerdings opfern. „Wenn Präsident Biden eine sehr progressive Gesetzgebung vorantreibt, wird das den Widerstand der Republikaner provozieren“, hat Mitt Romney, der republikanische Trump-Kontrahent, die Grenzen konservativer Kompromissbereitschaft aufgezeigt.

Viele Vorhaben, viele Gegner

Ein erster Testfall könnte das 1,9 Billionen Dollar umfassende Corona-Hilfspaket werden, das Biden angekündigt hat. Darin sind die Erhöhung der Einmalhilfen für die meisten Bürger von 600 auf 2000 Dollar, milliardenschwere Zuschüsse für Schulen, Bundesstaaten und Kommunen sowie ein gesetzlicher Mindestlohn von 15 Dollar vorgesehen. Noch härter dürfte das Ringen um das Wiederaufbaupaket mit gigantischen Investitionen in die Infrastruktur und in erneuerbare Energien werden, das Biden für Februar angekündigt hat.

Kurzfristig braucht der neue Präsident den Senat auch, um seine Minister einzusetzen. Doch aufgrund der langen Verzögerung der Amtsübergabe durch Trump wird der Präsident seine Regierung ohne ein bestätigtes Kabinett beginnen müssen. Biden hat eine bei Geschlecht, Hautfarbe und Religion beispiellos vielfältige Mannschaft zusammengestellt, die die Breite der amerikanischen Gesellschaft verkörpern soll. Politisch gelten die meisten Kandidaten als pragmatisch und mehrheitsfähig im Senat. Doch ihre Bestätigung stößt nun auf ein praktisches Problem, das die Demokraten selbst verursacht haben: Trumps Impeachment.

Sobald das Repräsentantenhaus seine Anklageschrift an den Senat weitergeleitet hat, verwandelt sich der in eine Art Gericht und lässt dann die normalen Amtsgeschäfte ruhen. Bis zum Urteil können Wochen vergehen. Ein langer Stillstand aber wäre für den neuen Präsidenten fatal. Fieberhaft suchen seine Verbündeten nun nach einer Möglichkeit, den Prozess entweder aufzuschieben oder parallel zu anderen Beratungen laufen zu lassen. „Ich glaube, dass die Bestätigung des Kabinetts und das Corona-Hilfspaket im Augenblick wichtiger sind als ein Prozess gegen einen Präsidenten, der das Amt schon verlassen hat“, sagt Chris Murphy, der demokratische Senator von Connecticut.

Kraftvolles Zeichen für Neuanfang

Auf jeden Fall will Biden so schnell wie möglich ein kraftvolles Zeichen für einen Neuanfang setzen. Solange ihm dabei die Unterstützung des Senats und seines Kabinetts fehlen, setzt er auf die Kraft des eigenen Amtes. Für die ersten zehn Tage hat Stabschef Klain ein Feuerwerk an präsidialen Verordnungen angekündigt. So will der neue Präsident ins Pariser Klimaschutzabkommen zurückkehren, den Einreisebann für Menschen aus überwiegend muslimischen Ländern aufheben und eine Maskenpflicht in Gebäuden und auf Straßen des Bundes einführen. Außerdem hat Biden die Covid-Impfung von mindestens 100 Millionen Amerikanern in den ersten hundert Tagen seiner Präsidentschaft versprochen.

Das ambitionierte Tempo entspricht Bidens Anspruch, die rechtspopulistische Twitter-Hetze seines Vorgängers durch konkrete Regierungsarbeit zu kontern. Der Mann, der als 28-Jähriger in den Senat gewählt wurde und Barack Obama als Vizepräsident diente, hat in jeder Hinsicht ein anderes Verständnis von Politik als der einstige Reality-TV-Star. Er bezieht seine Informationen nicht aus dem Frühstücksfernsehen, sondern aus Akten. Vor den Kameras zeigt er sich eher selten. Seine Reden sind knapp und ohne Ausschweifungen. Statt sich selbst mit Superlativen und Eigenlob zu überhäufen, zeigt Biden Empathie und gesteht Schwächen ein.

Zuversicht und Zweifel

„Ganz ehrlich: Wir werden in einem dunklen Winter bleiben“, räumte er am Freitag bei der Vorstellung seines Impfplans ein: „Die Dinge werden noch schlimmer werden, bevor sie besser werden.“ Sein billionenschweres Hilfspaket versah er mit dem Eingeständnis, es werde „noch eine Weile dauern“, bis die Maßnahmen alle greifen: „Es wird Pannen geben. Aber ich werde immer ehrlich zu Ihnen sein über Erfolge und Rückschläge.“

Das ist ein Ton, wie man ihn während der vergangenen vier Jahre im Weißen Haus nicht gehört hat. In seiner Inaugurationsrede hatte Trump ein apokalyptisches Bild vom Untergang des Landes gezeichnet. „Dieses amerikanische Gemetzel endet genau hier und jetzt“, versprach er martialisch und leitete damit in Wahrheit eine extreme Polarisierung ein, die nun in den neuen rechten Terror mündet.

Mit lediglich 1000 handverlesenen Gästen wird Biden vor der Kulisse des geschundenen Kapitols am Mittwoch eine ganz andere Botschaft aussenden. Seine Schlüsselworte sind „Versöhnung“ und „Heilung“. „Wir können das nur durchstehen, wenn wir als Amerikaner zusammenkommen“, hat er kürzlich gesagt.

Donald Trump entzieht sich dem Zusammenkommen schon mal demonstrativ. Er bricht das Protokoll und bleibt als erster scheidender Präsident seit 1869 der Amtsübergabe fern. Drei Stunden, bevor Joe Biden die Hand zum Schwur auf die Bibel legt, will Trump die Hauptstadt Richtung Florida verlassen, wo er künftig leben will. Die Rede ist von einer bizarren militärischen Abschiedszeremonie, die Trump für sich selbst plant. Es wäre ein Wunder, wenn der Abgang lautlos bliebe.

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