Nach Sturm auf das KapitolWie stark ist der deutsche Bundestag gefährdet?

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Protestler Ende August auf den Treppen des Reichstagsgebäudes.

Berlin – Am Donnerstagnachmittag kam der Bundestag zu einer Aktuellen Stunde zusammen. Sie trug den Titel „Nach dem Sturm auf das US-Kapitol – Strategien zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland und der Welt“ und war von der Großen Koalition aus Union und SPD beantragt worden. Der CDU-Außenexperte Johann Wadephul sagte bei der Gelegenheit, was am 6. Januar in Washington geschehen sei, „sollte uns eine erneute Mahnung sein, dass die Demokratie zu verteidigen ist“. Er zitierte zudem den Vorsitzenden der AfD-Bundestagsfraktion, Alexander Gauland, der 2017 erklärt hatte: „Wir werden Sie jagen.“ Genau das finde derzeit in Deutschland statt, so Wadephul. „Das werden wir nicht mehr zulassen; darauf können Sie sich verlassen.“

Kurz zuvor war der Ältestenrat des Bundestages zusammen getreten. Dabei gab die Bundestagsverwaltung bekannt, dass im Zuge der Störaktion von Gästen der AfD-Bundestagsfraktion während der Sitzung zum Infektionsschutzgesetz am 18. November bisher zwei Hausverbote ausgesprochen worden seien. Auch habe man „gegen mehrere Personen Verfahren nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz eingeleitet, die Bußgelder zur Folge haben“, sagte ein Sprecher.

Nicht klar ist noch, ob Sanktionen gegen die AfD-nahe ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Angelika Barbe verhängt werden, die sich an der Störaktion beteiligt hatte. Der Sprecher betonte: „Auch gegen ehemalige Abgeordnete können Verstöße gegen die Hausordnung des Bundestages als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Sie haben in Bezug auf ihr Verhalten in den Gebäuden des Bundestages im Rahmen von Besuchen keine besonderen Rechte. Diese Verfahren sind jedoch noch nicht abgeschlossen.“

Mit anderen Worten: Es gab nicht nur den Sturm von Anhängern des scheidenden US-Präsidenten Donald Trump auf das Herz der US-amerikanischen Demokratie. Vielmehr stürmten bereits am 29. August deutsche Rechtsextremisten auf die Reichstagstreppe; am 18. November wiederum nahmen „Querdenker“ und AfD-Störer den Bundestag von innen und außen in die Zange. Bilder wie jenes in Washington blieben allein deshalb aus, weil Polizisten das Regierungsviertel weiträumig abgeriegelt und teilweise im Dutzend die Eingänge zu den Abgeordneten-Gebäuden abgeschirmt hatten.

Im Kern - darin sind sich Vertreter aller anderen Fraktionen einig - hat sich das Klima im Bundestag seit 2017 ohnehin grundlegend verändert: wegen der AfD. Damals zog sie erstmals ins Hohe Haus ein. Nun ist dort nichts mehr, wie es einmal war.

Anfangs herrschte noch Zurückhaltung bei der Bewertung der Neulinge, die Gauland selbst als „gäriger Haufen“ bezeichnet hatte. Damit ist es angesichts einschlägiger Erfahrungen längst vorbei. Als der Bundestag nach der Störaktion vom 18. November über die Ereignisse diskutierte, sagte die SPD-Bundestagsabgeordnete Barbara Hendricks unumwunden: „Wir wissen, dass in Ihren Reihen Nazis sind.“ Niemand nimmt jetzt noch ein Blatt vor den Mund.

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Im April 2019 verließ die AfD-Fraktion den Saal - ihr Kandidat zum Bundestagsvizevorsitzenden war abgelehnt worden.

Das hat zum einen mit dem zu tun, was im Plenarsaal geschieht und lässt sich auch an Zahlen ablesen. So gab es seit der Wahl 2017 insgesamt 38 Ordnungsrufe - und damit mehr als in allen vier vorausgegangenen Legislaturperioden zusammen. Zwei Drittel dieser Ordnungsrufe richteten sich 2020 gegen die AfD. Freilich werden viele Verstöße von AfD-Abgeordneten gar nicht geahndet, weil sie fern von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) oder einem seiner Stellvertreter sitzen und diese zuweilen gar nicht hören können, was in den Reihen der Nationalautoritären gesagt wird.

Sicher ist, dass sich die Auftritte von AfD-Vertretern oft durch Frauenfeindlichkeit auszeichnen. So begann etwa der Abgeordnete Martin Renner seine Rede am 27. November 2019 mit den Worten: „Grüß Gott, Frau Präsident!“ Die Sitzung wurde von der grünen Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth geleitet. Als sie erwiderte: „Präsidentin!“, sagte Renner: „Sehr verehrte Damen! Sehr geehrte Herren! Liebe Zuschauer!“ Und das war erst der Auftakt. Denn im Fortgang seiner Rede über den Kulturetat der Bundesregierung formulierte der AfD-Mann: „Sie schaffen Deutschland ab und träumen höschenfeucht Ihr OneWorld-Fantasma.“ Die Vokabel „höschenfeucht“ blieb trotz des offenkundigen Sexismus ohne Ordnungsruf.

Der ignorante Umgang der AfD-Parlamentarier mit den Corona-Regeln bereitet den Kolleginnen und Kollegen der anderen Parteien ebenfalls Kopfzerbrechen. So trat der Abgeordnete Thomas Seitz unlängst mit durchlöcherter Maske ans Rednerpult – und landete später mit einer Infektion im Krankenhaus. Aus den genannten Gründen tun sich manche Bundestagsabgeordnete mittlerweile schwer damit, an der AfD-Fraktion entlang zu laufen und wählen stattdessen lieber einen der anderen beiden Ein- oder Ausgänge.

Gravierender ist, was jenseits des Plenarsaals geschieht – auch weil es bloß teilweise publik wird oder belegt werden kann. So sorgte der Mitarbeiter eines AfD-Bundestagsabgeordneten für Furore, der bei einem Besuch der EU-Kommission in Brüssel mit einem Messer aufkreuzte und behauptete, dieses Messer gebe er im Bundestag stets an der Pforte ab. Das glaubte natürlich kein Mensch. Im Frühjahr 2019 fand sich ein Journalist auf den Fluren des Bundestages plötzlich von argwöhnisch dreinblickenden Mitarbeitern der Linksfraktion umringt. Bald stellte sich heraus, warum. Er erfuhr, dass Emissäre der AfD-Fraktion zuweilen auf den Fluren der Linken unterwegs seien, um zu sehen, ob dort die Hausordnung eingehalten werde. Denn eigentlich sind Plakate auf den Fluren untersagt. Trotzdem hingen dort welche. Auf einem stand: „8. Mai 1945: Befreiung – Was sonst!?“ Der Vorfall zeigt, dass sich die Konflikte zwischen den Abgeordneten längst zu deren Angestellten fortpflanzen.

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38 Ordnungsrufe: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble.

Und dann sind da noch die Geschehnisse in den diversen Kantinen, in denen die 709 Parlamentarier und ihre über 3000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter essen gehen. So berichtete die eingangs bereits erwähnte SPD-Abgeordnete Barbara Hendricks von einer Mitarbeiterin, die in einer Kantine ein vegetarisches Gerichte bestellt hatte und sich von einem AfD-Mitarbeiter zurufen lassen musste: „Euch kriegen wir auch noch, Ihr Körnerfresser!“ Bei einer anderen Gelegenheit fragte ein junger Mitarbeiter beim Blick auf das vegetarische Gericht die Kellnerin: „Haben Sie auch richtiges Essen?“

Hendricks sagt: „Die Art und Weise, wie mit Bundestagsabgeordneten und Mitarbeiterinnen umgegangen wird, hat sich geändert, seitdem die AfD im Bundestag sitzt. Das betrifft vor allem die Mitarbeiterinnen, die offenbar bewusst eingeschüchtert werden sollen.“ So werde eine diffuse Bedrohungssituation geschaffen. Die 68-jährige Sozialdemokratin berichtet: „Manche Frauen sagen: Ich will nicht mehr abends um 21 Uhr durch die Flure gehen, weil ich nicht weiß, wer mir da begegnet.“ Sie sei ganz sicher, dass all das mit Absicht geschehe. „In der AfD sind augenscheinlich andere Charaktere am Werke - und Männer, die ein anderes Verhältnis zu Frauen haben“, so Hendricks. „Es gibt jedenfalls Grenzen dessen, was wir uns zumuten lassen müssen.“

200-köpfige Bundestagspolizei

Waren AfD-Angestellte den anderen Fraktionen schon bis dahin nicht geheuer, hat die Störaktion vom 18. November endgültig gezeigt, wozu die Partei in der Lage ist – nämlich dazu, zusätzlich Leute ins Haus zu schleusen, die andere gewählte Abgeordnete bedrängen sollen. Niemand kann garantieren, dass bei der nächsten Gelegenheit nicht auch unmittelbare physische Gewalt angewandt wird. Um den äußeren Schutz des Bundestages zu verbessern, wird die Berliner Polizei deshalb in dessen Umfeld ihre Präsenz verstärken und damit indirekt die 200-köpfige Bundestagspolizei unterstützen, die innerhalb der Parlamentsgebäude Verantwortung trägt.

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff äußerte sich in der Aktuellen Stunde des Bundestages am Donnerstag mithin ähnlich wie der CDU-Außenexperte Wadephul. Es wäre „falsch, wenn wir uns von den Bildern in Washington abwendeten und glaubten, sie beträfen uns nicht“, mahnte der Liberale, der lange dort gelebt hatte, und fuhr fort: „Die Parallelen liegen auf der Hand.“

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