„Dreckiger Kampf“Militärexperte aus Russland rechnet mit Putins Armee ab

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Wladimir Putin 

  • Ruslan Puchow, Mitglied des Expertenrates der Regierung der Russischen Föderation und eng mit dem Kreml verbunden, zeichnet ein düsteres Bild der technischen und personellen Möglichkeiten des russischen Militärs.
  • Wie blickt er auf die ukrainische Armee?

Nach 176 Tagen Krieg haben Russlands Streitkräfte bei Beobachtenden im Westen ein denkbar schlechtes Image – auch, was ihre technischen Qualitäten anbelangt. Wie tickt diese Armee, vor der einst allein wegen der statistischen Zahlen die ganze Welt zitterte, wirklich?

Im Krieg gegen die Ukraine gibt sie ein zunehmend desolates Bild ab. Auch wenn über die Höhe der Verluste an Menschen und Material nur spekuliert werden kann. Dass sie apokalyptisch hoch sind, steht außer Zweifel.

Es sind zunehmend kremlnahe Experten, die ein düsteres Bild des eigenen Militärs zeichnen. Einer, der sehr früh schon „taktische Fehler“ und die eigene „Inkompetenz“ beschrieb, war der Ultranationalist und ehemalige Separatistenführer Igor Girkin, der gerüchteweise inzwischen verhaftet sein soll. „Das Versagen der russischen Militärstrategie ist offensichtlich“, schrieb er vor wenigen Tagen.

Ähnlich, wenn auch detaillierter, äußert sich jetzt Ruslan Puchow, seit 2012 Mitglied des Expertenrates der Regierung der Russischen Föderation und eng mit dem russischen Verteidigungsministerium verbunden. Er hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht und gilt zwar als kremlnaher, aber international gefragter Gesprächspartner in Verteidigungsfragen.

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In einem Interview mit der russischen Beratungsfirma Prisp, in deutscher Übersetzung im Fachblog „Konflikte & Sicherheit“ nachlesbar, hat der 49-Jährige ein düsteres Bild der russischen Streitkräfte und der Führung um Präsident Wladimir Putin gezeichnet.

„Die Methoden des Ersten Weltkriegs funktionieren nicht“, so Puchow, „vor allem, wenn man dem Feind bei der Infanterie nicht überlegen ist. Eine Kombination aus modernen Aufklärungsmitteln (einschließlich Drohnen) in Verbindung mit einer Vielzahl von Präzisionswaffen könnte die gegnerische Frontstellung auflösen – aber genau daran mangelt es uns.“

Noch profitiere Russland bei seiner „militärischen Spezialoperation“ – auch Puchow verwendet diesen vom Kreml vorgeschriebenen Begriff – davon, dass die westlichen Waffenlieferungen die Ukraine bislang nur in homöopathischen Dosen erreichen, was vor allem politischen Erwägungen geschuldet sei. Doch die Lage Russlands könnte sich zum Ende des Sommers hin dramatisch verschlechtern. Im Interview benennt Puchow sechs Bereiche, die der russischen Armee besonders zu schaffen machen.

Panzer

Das russische Heer verwende größtenteils veraltete T-72 Kampfpanzer, die in der Ukraine zu einer leichten Beute für westliche Panzerabwehrwaffen werden. Den T-90 Panzer bezeichnet Ruslan Puchow im Interview als „getunten T-72″, also nicht wirklich modern. Der neue, fortschrittliche T-14 Armata-Kampfpanzer werde in absehbarer Zukunft nicht beim russischen Heer eingeführt werden.

Puchow: „Die Sowjetunion war das erste Land, das die abstandsaktiven Schutzsysteme [für Kampfpanzer] (KAZ) erfand. Aber es gibt kein KAZ an unseren Panzern. Das ist natürlich eine Schande, denn die Gefechtserfahrungen in der Ukraine haben gezeigt, dass ein Panzer ohne KAZ auf dem Schlachtfeld gar nicht mehr überlebensfähig ist.“

Infanterie

Puchow: „Wir haben einen erheblichen Mangel an Infanterie. Die Front ist groß und es gibt nicht genug Einsatzkräfte für die militärische Spezialoperation. Die Ukrainer sind in der Defensive, sie haben eine Menge Artillerie und Kampfflugzeuge. Wir hingegen müssen die Front mit einer unzureichenden Anzahl von Soldaten sowie mit anfälligen Panzern und Schützenpanzern durchbrechen. Im Donbass versucht die russische Seite, dieses Problem durch den Einsatz von Artillerie zu lösen, aber wie Sie sehen können, geht das sehr langsam.“

Luftwaffe

Russland verfüge laut Puchow über kein einsatzbereites Kampfflugzeug der 5. Generation, weil die Serienproduktion der Su-57 wohl gerade erst anläuft. Es fehlen der russischen Armee darüber hinaus Hochpräzisionswaffen nebst moderner Zielvorrichtungen. So müssten die russischen Bomber entweder so tief fliegen, dass sie in die Reichweite feindlicher Kämpfer gerieten, oder so hoch, dass ihre Bomben nutzlos würden. Zusammen mit der nach wie vor einsatzfähigen ukrainischen Flugabwehr behindere dies die russische Luftwaffe enorm bei ihrem Versuch, die eigenen Bodentruppen in ihrem Kampf gegen die ukrainische Armee zu unterstützen.

Artillerie

Ein weiteres Problem für Russland sieht Puchow in der relativ geringen Reichweite sowjetischer Artilleriegeschütze und Raketenwerfer, die maximal 25 Kilometer weit feuern könnten – westliche Geschütze kämen hingegen auf 41 Kilometer Reichweite. Puchow: „Die militärische Spezialoperation hat wieder einmal bewiesen, dass man Hunderte, Tausende ungelenkter Raketen abschießen kann, die scheinbar billig sind, aber diese ganze Leistung wird durch zwei gelenkte Raketen ausgeglichen, die das Ziel mit Präzision treffen.

Zwei dieser Raketen wären zwar teuer, würden aber mehr Probleme lösen als Tausende von ungelenkten Raketen. Die alten konventionellen Granaten richten beim Feind keinen großen Schaden an, vor allem, wenn er tief im Boden vergraben ist oder in Betonbunkern Schutz findet. Dies ist ein weiterer Beweis für den Siegeszug der Präzisionswaffen.“ Verschärft habe sich dieses Problem mit der Lieferung von Himars- und MLRS-Mehrfachraketenwerfern an die Streitkräfte der Ukraine, die hochpräzise GMLRS-Raketen mit GPS-Lenkung und einer Reichweite von bis zu 85 Kilometern abfeuern. Puchow: „Einfach ausgedrückt: Im Falle eines Artillerieduells ist es wahrscheinlicher, dass sie uns besiegen.“

Drohnen

Die Ukrainer hätten laut Puchow gelernt, das Feuer ihrer Geschütze mit handelsüblichen Drohnen zu steuern: „Wir haben diese Revolution verpasst und müssen sie nun nachholen“, so Puchow selbstkritisch.

Lob für die ukrainische Armee

Puchow kritisiert das in russischen TV-Talkshows zur „Selbstbeweihräucherung“ gezeichnete „Bild eines ukrainischen „Volkssturms„ irgendwo in Lemberg, bewaffnet mit Maxim- oder Degtjarow-Maschinengewehren“. Das habe aber mit der Realität nichts zu tun: „Die Einheiten, die an der Front kämpfen, sind recht gut ausgerüstet. Sie verfügen über ein Reservekorps, und die Streitkräfte der Ukraine können bei Bedarf einen Gegenangriff starten. Ich glaube, sie sind besser bewaffnet als der „Volkssturm“. Die Unterschätzung des Feindes hat uns in der Tat einen grausamen Streich gespielt.“ Vor allem dieser Satz dürfte in Russland für Unmut sorgen: „Die Ukrainer lernen sehr schnell, und sie haben bewiesen, dass sie sehr talentierte Kämpfer sind.“

Puchow behauptet, im Unterschied zu den Ukrainern „sind wir mit Samthandschuhen in die militärische Spezialoperation gestartet. Das heißt, wir wollten sicherstellen, dass keine Einheimischen zu Schaden kommen. Wir haben die Feindseligkeiten als eine Art ritterliches Duell eröffnet“, was angesichts der dokumentierten, durch russische Truppen begangene Gräuel an Orten wie Butscha oder Mariupol zynisch klingt. Geworden sei jetzt daraus „ein dreckiger Kampf in einer Gasse, in der es keine Regeln gibt“.

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