Europas lange Leitungen„Der alte Kontinent ist sehr verletzbar“

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Querschnitt eines Unterwasserkabels

  • Schon lange weisen Militärs und Sicherheitsexperten auf die Gefährdung technischer Infrastrukturen auf dem Meeresboden hin.
  • Doch erst die mysteriösen Lecks in den Ostseepipelines sorgen jetzt dafür, dass in der Politik die Sicherheit von Seekabeln in den Fokus rückt.
  • Mit erschreckenden Erkenntnissen.

Historiker datieren den ersten Angriff auf ein Seekabel auf das Jahr 1898. Damals kappte das US-Kampfschiff „Zafiro“ während des Spanisch-Amerikanischen Kriegs im Golf von Manila ein Kabel, das die philippinische Hauptstadt mit dem asiatischen Kontinent verband. Über ähnliche Attacken auf Kommunikationsverbindungen auf dem Meeresboden wird aus der Karibik berichtet. Sie sollten wesentlich zum Sieg der Vereinigten Staaten über Spanien beitragen. Bis heute wecken die etwa 450 Unterwasserkabel zwischen den Kontinenten mit einer geschätzten Gesamtlänge von 1,3 Millionen Kilometern Begehrlichkeiten. Kein Wunder: Mindestens 95 Prozent der gesamten Internetkommunikation läuft über die Leitungen.

2007 etwa durchtrennten vietnamesische Fischer ein Unterseekabel, um dessen Verbundwerkstoffe zu bergen und weiterzuverkaufen. Bei der Aktion verlor Vietnam für drei Wochen fast vollständig die Verbindung zum Rest der Welt. 2017 hatten Medien – von öffentlichen Stellen unbestätigt – über Anschläge auf Kabel zwischen Großbritannien und den USA sowie zwischen Frankreich und den USA berichtet.

Mysteriöses Fehlen von 4,3 Kilometern Seekabel vor Norwegen

Erst Anfang November 2021 stellten Ermittler nach Störungs- und Ausfallmeldungen von Meeresforschern fest, dass von einem Seekabel vor der Küste Norwegens, das wissenschaftlichen Zwecken diente, 4,3 Kilometer fehlten. Der Vorfall konnte bis heute nicht aufgeklärt werden.

Der Kampf um die Kabel, so Fachleute, wird von den Großmächten wie den USA, Russland und China verbissen und vor allem möglichst geheim geführt. Beobachterinnen und Beobachter machen mehrere Entwicklungen für die rasante Zunahme von Scharmützeln unter Wasser aus: Das wachsende Datenvolumen in den Kabeln animiert Drittländer zu Spionage oder Zerstörung.

Die Anlagen werden immer teurer – was zur Bildung bisweilen unübersichtlicher Kabelkonsortien mit Dutzenden von Eignern und spezifischen Interessen führt. Dazu gehören auch staatliche Akteure. Die Stränge zu warten und zu überwachen wird immer kostspieliger. Kabelbetreiber setzen Fernverwaltungssysteme ein, die Personalkosten sparen. Diese Systeme sind jedoch schlecht gesichert.

Seekabel als „zivil-militärische“ Verbindungen

Die großen Techkonzerne wie Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft bauen inzwischen eigene Kabel, um ihre Vormachtstellung auszubauen. Das schafft Abhängigkeiten, die vor allem der globale Süden zu spüren bekommt. China drängt immer vehementer in den Markt. Das Peace-Kabel des Unternehmens Hengtong führt von China nach Marseille. Peking sieht darin ein Modell für „zivil-militärische“ Verbindungen.

Außerdem verfügen die Vereinigten Staaten, China und Russland über speziell ausgerüstete Schiffe oder U-Boo te, die in der Lage sind, die durch die Glasfaserkabel laufenden Daten abzufangen oder sogar zu verändern, ohne sie zu beschädigen.

Ringen um Cybersicherheit

Um Cybersicherheit wird in der EU schon länger gerungen – mit mäßigem Erfolg. Die physikalische Verwundbarkeit der Nervenstränge des World Wide Web ist jedoch lange in Europa als Problem vernachlässigt worden. Bislang geht bei den jährlich weltweit knapp über 100 Kabelbrüchen die größte Gefahr von mächtigen Fischernetzen oder vom Ankerlichten aus.

Doch spätestens seit den mysteriösen Lecks der Ostseepipeline im September 2022 ist auch der breiteren Öffentlichkeit klar: Energie- und Datenleitungen unter Wasser sind potenzielle Ziele im hybriden Krieg um Einfluss und Märkte. Bis heute haben Investitionen in den Schutz und die Unversehrtheit versenkter kritischer Infrastrukturen (Kritis) in Europa nur eine geringe Priorität – obwohl sie die Grundlage weltweiter Kommunikation und wirtschaftlicher Transaktionen in Echtzeit sind.

Europa ist unter Wasser blind

Der alte Kontinent ist sehr verletzbar, warnt Christian Bueger von der Universität Kopenhagen. Er hat gemeinsam mit zwei Wissenschaftlern aus Darmstadt und Paris eine Studie für das EU-Parlament erstellt. Ergebnis: Europa ist unter Wasser praktisch blind.

„Drei Agenturen der Europäischen Union – die Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (Emsa), die Europäische Fischereiaufsichtsagentur (EFCA) und die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) – befassen sich mit der Meeresoberfläche“, sagt Bueger. „Aber keine von ihnen hat den Auftrag, unter Wasser zu schauen.“ Dabei hätte zumindest Frontex, die stark auf die Verhinderung illegaler Mi gra tion reduziert wird, den klaren Auftrag, Kriminalität zu bekämpfen.

Bueger und seine Kollegen sehen eigentlich nur einen Weg, die kostspielige Unterwasserüberwachung zu verbessern: „Marine und Küstenwache müssen besser mit der Privatindustrie zusammenarbeiten, die die Unterwasserinfrastruktur betreibt und wartet.“

Holger Klindt, der in der Gesellschaft für maritime Technik (GMT) eine Arbeitsgruppe leitet, die sich mit solchen Fragen beschäftigt, hält dies nicht allein für eine teure Angelegenheit. „Sie ist technologisch anspruchsvoll und hat physikalische Grenzen.“

Unmögliche Überwachung

Der Meeresboden ist ein riesiger Raum, und Kabel und Pipelines erstrecken sich über Tausende von Kilometern. Zwar könnten Marineboote die kritischen Infrastrukturen abfahren und in kurzen Abständen scannen, so Klindt. „Das bedeutet jedoch nicht, dass fünf Minuten später dort nichts passieren kann.“ Eine lückenlose Überwachung hält er für unmöglich. „Das wäre ein gigantisches Unterfangen.“

Der Experte kritisiert jedoch die Praxis in Politik und Administration, sich bei komplexen Aufgaben lieber wegzuducken. Klindt teilt Buegers Auffassung, dass in Europa kooperativ gearbeitet werden müsse. So könnten allein in Deutschland die Daten der Radarsicherungskette, des international üblichen Automatischen Identifikationssystems (AIS) mit optischen und akustischen Beobachtungen der Bundesmarine, zu einem Lagebild zusammengefasst werden.

In Europa gibt es ein Überwachungssystem zur Beobachtung maritimer Aktivitäten, das Common Information Sharing Environment (CISE). Es verfügt jedoch kaum über Daten, die privaten Kabelunternehmen zur Verfügung stehen. Außerdem bemängeln Fachleute, dass bislang politisch nicht abgesichert ist, dass die Industrie über ausreichende Reparaturkapazitäten für Kabel und Pipelines verfügt.

Arbeit an Unterwasserpolitik

In Brüssel wird derzeit an einer expliziten Unterwasserpolitik der EU gearbeitet. Die neue Strategie für die Sicherheit im Seeverkehr soll die Koordinierung zwischen den EU-Institutionen und den für den maritimen Bereich zuständigen Stellen der Mitgliedsstaaten sicherstellen. Ein Ergebnis wird für 2023 erwartet. Unklar ist, ob es sich schon damit befasst, wie Unterwasserinfrastruktur besser geschützt werden können.

Länder wie Frankreich und Großbritannien vertrauen sich in dieser Frage lieber selbst. Auch Portugal betrachtet den Unterwasserschutz als militärisches „Schlüsselthema“. Im Februar 2022 stellte das französische Verteidigungsministerium seine Strategie für die „Kriegsführung auf dem Meeresgrund“ vor.

Der Grund ist klar, analysiert Militärexpertin Charlotte Le Breton vom International Institute for Strategic Studies (IISS): „Mehr als 50 der weltweit wichtigsten Unterseekabel, die derzeit in Betrieb sind – das sind mehr als 10 Prozent der weltweiten Kabel – verlaufen durch Frankreich und seine überseeischen Gebiete.“ Aus diesem Grund werde in dem Papier vorgeschlagen, den Meeresboden als neue Domäne zu betrachten, ähnlich wie den Cyberspace und den Weltraum, so Le Breton.

Schutz nationaler Infrastruktur: Überwachungsschiff der Royal Navy

Im Kern geht es um die Kontrolle durch bessere Kenntnisse über den Meeresboden, durch Überwachung des Unterwasserbereichs und die Sicherung der Handlungsfähigkeit unter der Wasseroberfläche. In der Strategie heißt es, dass sich drei Viertel des Meeresbodens in einer Tiefe von mehr als 3000 Metern befinden und dass das Ziel darin bestehen müsse, bis zu 6000 Meter tief zu operieren. Damit könne man 97 Prozent des Meeresbodens erreichen. Bis 2025 will Frankreich mindestens ein ferngesteuertes Fahrzeug und ein autonomes Vehikel für Einsätze in Tiefen von 6000 Metern entwickeln.

Die Royal Navy soll indes bis 2024 mindestens ein neues Mehrrollen-Ozeanüberwachungsschiff (MROSS) mit verbesserten Unterwasserfähigkeiten und autonomen Systemen an Bord einführen. „Unsere Gegner sehen in unserer kritischen nationalen Infrastruktur eine der Hauptschwachstellen und haben Fähigkeiten entwickelt, die diese bedrohen“, sagt der britische Verteidigungsminister Ben Wallace.

Schnell eingreifende Miliz

Die US-Regierung fährt noch einen weiteren Kurs. Nach der Untersuchung möglicher Risiken durch Mehrfachanschläge forderte sie die Schifffahrtsverwaltung auf, verschiedene zivilgesellschaftliche Vereinigungen in Programme zur Minimierung dieser Gefahren einzubeziehen. Die Idee: eine Art „Unterseekabelmiliz“ zu etablieren, die im Krisenfall schnell reagieren kann.

Wäre das auch ein Modell für Europa? Manuel Atug von der AG Kritis ist da skeptisch. „Europa hat sich abhängig gemacht von nicht europäischen Kabelbetreibern und darauf gesetzt, dass der Markt schon alles regelt. Das war und ist naiv.“ Der unabhängige Experte hält den All-Gefahren-Ansatz des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), der von Naturereignissen bis zu technologischen Risiken alles einschließt, für richtig. Allerdings seien im Risikomanagement die Dominoeffekte durch Angriffe unter Wasser jahrelang ignoriert worden.

Atug meint aber auch, dass die Debatten über den Schutz kritischer Infrastrukturen unter der Wasseroberfläche am Kernthema vorbeigingen. „Wir gestatten unseren Geheimdiensten per Gesetz das Hacken ausländischer Provider zum Schutz unserer Interessen. Schutz heißt im Umkehrschluss auch, dass ich weiß, wie ich am besten angreifen kann. An der Stelle drehen sich alle im Kreis.“

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