Falls Russland den Hahn zudrehtSo ist die aktuelle Lage bei der Gasversorgung

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Gasleitung 090522

Was passiert, wenn Russland den Gashahn zudreht? 

Berlin – Viele Experten, gehen davon aus, dass Russlands Staatspräsident Wladimir Putin jeden Tag die Gaslieferungen komplett einstellen könnte. Als Vergeltung für Sanktionen der westlichen Länder. Wir erläutern, wie die Folgen eines Export-Stopps für die Verbraucher und für die Unternehmen aussehen könnten.

Wie ist die aktuelle Lage in der Gasversorgung?

Besser als kürzlich noch erwartet wurde. Aufgrund der günstigen Witterung in den vergangenen Wochen und wegen der hohen Preise für Erdgas füllen sich die Erdgasspeicher in Europa derzeit deutlich schneller als im Vorjahr. Darauf macht der Reuters-Marktexperte John Kemp in einer aktuellen Analyse aufmerksam.

Was sind die wichtigsten Faktoren?

Die Heizsaison ist vorüber. Zugleich seien wegen stark gestiegenen Kosten für den Brennstoff sowohl die Betreiber von Gaskraftwerken als auch Industriebetriebe zurückhaltend beim Gasverbrauch, so Kemp. Parallel dazu werde viel verflüssigtes Gas (LNG) geliefert – die Betreiber der Speicher bestellen es, sie wetten auf steigende Preise. Wenn der Preisdruck anhalte, was wahrscheinlich sei, würden die unterirdischen Reservoire schneller als normal gefüllt. Im Herbst könne mit höheren Füllständen als im Vorjahr gerechnet werden. Dies könnte reichen, um Europa vor Versorgungsschocks zu bewahren – mit Ausnahme eines Lieferstopps durch Russland.

Wie wahrscheinlich ist ein russischer Boykott?

Seriöse Vorhersagen sind nicht möglich. Manager aus der Energiebranche haben mehrfach gewarnt, dass Putin den Gashahn zudrehen könnte, wenn die EU- und die G7-Länder ein Öl-Embargo umsetzen. Andere Experten verweisen darauf, dass der Verlauf des Ukrainekrieges die maßgebliche Rolle spiele: Wenn Putin sich in die Ecke gedrängt fühle, könne er als Vergeltung die Gas-Pipelines stilllegen. Anlass könnten zwischen Mitte und Ende Mai Zahlungstermine sein, die europäische Energieunternehmen in Euro oder Dollar tätigen wollen, der Kreml aber verlangt Rubel.

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Wie stark würde ein sofortiger Exportstopp Deutschland treffen?

Das würde sich unmittelbar nur wenig bemerkbar machen. Allein schon weil die privaten Haushalte, als zweitgrößte Abnehmergruppe, im Mai im Schnitt nur gut drei Prozent und im Juni weniger als zwei Prozent ihres jährlichen Bedarfs benötigen. Allerdings könnten dann die hiesigen Gasspeicher weniger schnell gefüllt werden – aktuell liegt der Füllstand bei gut 38 Prozent. Wobei aber laut Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) die Abhängigkeit vom russischen Gas mittlerweile deutlich auf noch 35 Prozent gefallen ist. Lieferungen aus Norwegen und den Niederlanden wurden erhöht und die LNG-Importe signifikant gesteigert.

Wie würden die längerfristigen Auswirkungen aussehen?

Darüber streiten die Wirtschaftsforscher seit Wochen heftig – am Montag fand im Bundestagsausschuss für Klimaschutz und Energie dazu eine Anhörung statt. Geladen war auch Tom Krebs von der Uni Mannheim, der gerade eine Studie vorgelegt hat, die vom gewerkschaftsnahen Institut IMK gefördert wurde. Das Fazit: In den ersten zwölf Monaten würde die Produktion so stark einbrechen, dass die Wirtschaftsleistung um bis zu acht Prozent schrumpft. Wegen hoher Energiepreise und geringerer privater Nachfrage könnte das Bruttoinlandsprodukt um weitere zwei bis vier Prozent zurückgehen. Es könne zu einer Wirtschaftskrise kommen, wie sie Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gesehen habe, so Krebs. Überwiegend die unteren und mittleren Einkommen seien betroffen, soziale Spannungen würden sich verschärfen. Und die Möglichkeiten der Politik zum Gegensteuern seien – auch wegen der hohen Inflation – sehr eingeschränkt.

Wie sieht die Gegenposition aus?

Auch die Wirtschaftsweise Veronika Grimm geht von einer Rezession aus mit bis zu sechs Prozent weniger Wirtschaftswachstum – ähnlich wie zu Beginn der Corona-Pandemie. Sie erwartet aber auch, dass ein größerer Teil der Ausfälle in den Lieferketten ausgeglichen werden kann, etwa indem Produkte, die in Deutschland nicht gefertigt werden können, importiert werden. Grimm räumt ein, dass dann staatliche Hilfsprogramme für Firmen und Verbraucher nötig werden. Die Spielräume dafür gebe es aber. Die deutsche Staatsverschuldung ist im Vergleich zu anderen großen Industrienationen relativ gering.

Wie viel mehr LNG-Importe sind in den nächsten Monaten möglich?

Am Donnerstag voriger Woche wurde der Weg frei gemacht, für ein erstes schwimmendes LNG-Terminal in Wilhelmshaven, das schon im nächsten Winter eingesetzt werden soll. Es hat nach Angaben des Betreibers Uniper eine Kapazität von bis zu 7,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr, was etwa einem Viertel der aktuellen russischen Gaslieferungen entspricht. Wobei Habeck davon ausgeht, dass der Anteil des russischen Gases durch Einsparungen und mehr Effizienz auf 30 Prozent bis zum Jahresende gesenkt werden kann.

Was bedeutet, die Aktivierung des sogenannten Notfallplans?

Der Ende März vollzogene Schritt bedeutet zunächst nur, dass eine mit Experten besetzte Task Force die aktuelle Versorgungslage ständig beobachtet. Das ist die Frühwarnstufe. Erst auf der dritten und höchsten Stufe (Notfallstufe) würde die Bundesnetzagentur (BnetzA) als zuständige Behörde eingreifen und Erdgas rationieren. Die Behörde hat vorige Woche mit einer Befragung der größten 2500 Gasverbraucher begonnen. Sie soll dem Aufbau einer „Sicherheitsplattform Gas“ dienen, mit der notfalls die Verteilung von Erdgas geregelt wird.

Wem wird das Gas abgedreht?

„Private Haushalte und soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser gelten nach dem europäischen Regelwerk als geschützte Kunden. Deshalb genießen sie Priorität, wenn nicht ausreichend Gas verfügbar ist“, sagte ein BnetzA-Sprecher dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Industrie-Lobbyisten hatten zuletzt aber massiv Druck gemacht, um die Reihenfolge umzukehren, da die industrielle Produktion nicht zusammenbrechen dürfe. Eine Reihe von Politikern, insbesondere aus den Reihen von CDU und FDP, unterstützt diese Position. BnetzA-Präsident Klaus Müller hat aber mehrfach auf die Rechtslage aufmerksam gemacht.

Wie soll die Reihenfolge beim Abschalten der Gasversorgung für die Unternehmen aussehen?

„Eine feste Reihenfolge für Abschaltungen im Notfall macht keinen Sinn“, sagte der BnetzA-Sprecher. In einer Notfallsituation müsse nach der aktuellen Lage entschieden werden. Zahlreiche Parameter kämen dann zum Tragen. „Unter anderem spielt die Witterung eine wichtige Rolle. Aber auch die Frage, wo wie viel Erdgas zur Verfügung steht. Zu beachten ist zudem, wie stark Unternehmen in Lieferketten eingebunden sind“, so der Sprecher, der erläutert, dass die Abfrage der 2500 Firmen Daten liefern soll, um im Falle eines Falles ein Lagebild zu erstellen, auf dessen Grundlage dann über Abschaltungen entschieden wird. Dabei kann es natürlich auch Unternehmen treffen, die nicht zu den 2500 Großverbrauchern gehören.

Was will die Netzagentur mit ihrer Strategie bezwecken?

Nach RND-Informationen soll Unternehmen, sofern irgendwie möglich, der Gashahn nicht vollständig zugedreht werden. Vielmehr soll es darum gehen, den Bezug nur zu reduzieren. Damit Unternehmen - wenn auch auf reduziertem Niveau - weiterarbeiten können und die ökonomischen Schäden begrenzt werden. Darüber hinaus überprüft die Netzagentur inwiefern Auktionen ein möglicher Weg sind – ähnlich wie beim Kohleausstieg. Das würde darauf hinauslaufen, dass Unternehmen eine Prämie für die Reduzierung des Gasverbrauchs erhalten. Die Firmen, die die niedrigsten Entschädigungen fordern, kommen zum Zuge. Dies kann aber nur funktionieren, wenn ein Auktionsmechanismus gefunden wird, der sehr kurzfristig aktiviert werden kann.

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