KommentarBriten sind auf einzigartige Weise von Johnson belogen und betrogen worden

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Johnson Rücktritt 070722

Boris Johnson 

Allzu viel ist über Monate hinweg von den Peinlichkeiten rund um Boris Johnson die Rede gewesen: von Partys im Lockdown, von Lügen, von vertuschten Sex-Affären. Paradoxerweise schien dies alles zeitweise sogar eine Art Schutz zu bieten für Johnson. Weil die Briten auf immer neue Details blickten, geriet ihnen das komplette Bild aus dem Blick – wie dem Betrachter eines riesigen modernen Gemäldes, der aus wenigen Zentimetern Abstand verwirrt auf einen einzigen bunten Pinselstrich starrt.

Den eigentlichen Skandal erfasst, wer ein paar Meter zurücktritt und den Blick weitet. Nie sind die Briten in ihrer langen und stolzen Geschichte von einem Premierminister so belogen und betrogen worden wie durch Johnson und seine Brexit-Politik. Der Austritt aus der EU, 2016 mit gigantischem Tam-Tam und vielen falschen Versprechungen vorangetrieben, sollte alles oder jedenfalls vieles besser machen.

Inzwischen fällt den Briten kein einziger Punkt ein, der sich für sie konkret zum Besseren gewendet hätte.

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Immer wieder hatte Johnson funkelnde Visionen entworfen: Ein neu entstehendes „global Britain“ werde zu ungeahnten Höhenflügen aufsteigen, endlich „entfesselt“ von allen Regeln und Vorgaben der bösen Brüsseler Bürokraten.

Die Wahrheit ist: Die jüngste OECD-Prognose sagt für Großbritannien 2023 ein Wachstum von null Prozent voraus, den schlechtesten Wert unter allen G-20-Ländern mit Ausnahme Russlands. Anders als Russland aber wird Großbritannien nicht mit Wirtschaftssanktionen belegt.

Brexit war ein Fehler

Die Briten hören es nach wie vor nicht gern. Aber die für sie bittere Wahrheit ist: Sie haben sich mit ihrem Austritt aus der EU selbst ins Knie geschossen.

Hier, im Ökonomischen, liegen die tieferen Wurzeln ihrer dieser Tage allerorten spürbaren Unzufriedenheit. Vor der Haustür der Briten liegt ein einheitlich organisierter Binnenmarkt mit rund 450 Millionen Menschen. Von diesem Binnenmarkt aber wollten sie sich unbedingt lossagen und, beflügelt von dem verkniffenen EU-Hasser Johnson, ihr eigenes Ding machen. Common sense geht anders.

Jetzt spüren die Briten die Folgen. Der Weltkonzern Intel zum Beispiel dachte in diesem Frühjahr nicht für eine einzige Sekunde daran, seine Chipfabriken der Zukunft in Großbritannien zu bauen, also außerhalb der EU. Die 17 Milliarden Euro fließen jetzt nach Magdeburg. Es ist die größte Einzelinvestition in ganz Europa, mit arbeitssichernden Impulsen auf viele Jahrzehnte hinaus. Weitere Werke baut Intel übrigens, schöne Grüße nach London, derzeit in Irland. Dies alles folgt schlichter wirtschaftlicher Logik. Kein „global player“ will, dass seine Produkte im Stau vor europäischen Zollschranken stehen.

Auch die Briten brauchen Allianzen

Das Brexit-Referendum von 2016 war, wie die Trump-Wahl im gleichen Jahr, ein Sieg des Rechtspopulismus über die Vernunft, begleitet von einem kichernden Kreml, der stets auf Zersetzung des Westens bedacht war und ist. Russlands Krieg in der Ukraine rückt jetzt hoffentlich die Weltwahrnehmung in London wieder ein bisschen zurecht.

Die Briten halten sich, wie viele Völker, für etwas ganz Besonderes. Doch auch ihre Zukunft liegt in Allianzen, nicht in Alleingängen. Unter den potenziellen Johnson-Nachfolgern scheint dies am ehesten der bisherige Verteidigungsminister Ben Wallace verstanden zu haben.

Eine Rückkehr in die EU mag in weiter Ferne liegen. Dringend nötig ist aber als erster Schritt zur Besserung ein klügeres Zusammenwirken von London und Brüssel. Wer auch immer demnächst die Geschicke Großbritanniens lenken will, muss für sein Land und seine Leute ein Ende des jahrelangen Ausflugs ins Irreale organisieren.

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