Marineexperte warntSchiffe von Nato und Russland begegnen sich auf engstem Raum

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Die deutsche Fregatte „Sachsen“ fährt nach dem Manöver Baltic Operations (BALTOPS) auf der Ostsee in die Kieler Förde ein.

  • Auf der Ostsee begegnen einander Schiffe von Nato und Russland auf engstem Raum – durch den Ukraine-Krieg ist die Gefahr einer Eskalation noch einmal deutlich gewachsen.
  • Der Kieler Marineexperte Sebastian Bruns über die Kräfteverhältnisse auf dem Meer, den Zustand der deutschen Schiffe und die Marine als „Schweizer Messer der Sicherheitspolitik“.

Kiel – Mal läuft ein russisches U-Boot in den Schären vor Stockholm auf Grund, mal stören russische Schiffe einen zivilen Kabelleger, mal provozieren russische Jets US-Zerstörer: Die Geschichte des Militärs auf der Ostsee ist auch eine Geschichte der Zusammenstöße und Beinaheeskalationen. An diesem Freitag endet das große Nato-Manöver „Baltops“ mit 45 Schiffe und 7000 Soldaten aus 14 Ländern – und auch dabei kamen sich westliche und russische Schiffe bedenklich nahe: Russland versammelte seine Schiffe parallel zur Nato-Übung ebenfalls auf der Ostsee. „Die Ostsee ist aus sicherheitspolitischer Sicht ein sehr besonderes Meer“, sagt der Politikwissenschaftler Sebastian Bruns vom Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel – mit einem großen Potenzial für Zwischenfälle und Eskalationen.

Herr Bruns, als die Nato ihre große Übung auf der Ostsee begann, hat Russland sofort mit einer Gegenübung reagiert, zusätzlich haben russische Flugzeuge den schwedischen Luftraum verletzt. Wie nah waren wir einem militärischen Konflikt auf der Ostsee?

Bruns: Es bestand keine unmittelbare Kriegsgefahr. Aber die Russen haben hier schon ein Zeichen gesetzt. Marinen sind nicht nur ein militärisches Instrument, sondern auch ein diplomatisches. Das hat Russland hier genutzt.

Die „Baltops“-Übung gibt es seit 50 Jahren – aber zum ersten Mal vor dem Hintergrund eines Krieges. Wie wirkt sich der Krieg in der Ukraine auf so ein Manöver in der Ostsee aus?

Es hatte sich schon zuvor sehr gewandelt. Von 1990 bis 2013 waren die Russen selbst immer wieder an diesem Manöver unter Führung der USA beteiligt. Seit der Annexion der Krim sind die Russen nicht mehr eingeladen – und seitdem ist es wieder deutlich konfrontativer geworden. Die russische Marine hat zunächst immer im August ihr eigenes Manöver gemacht – um das Terrain abzustecken, aber die Situation gleichzeitig etwas zu entzerren, sodass es nicht allzu aggressiv wirkt. Dass Russland jetzt ein eigenes paralleles Manöver abhält, ist auf jeden Fall den Umständen geschuldet.

Auch die Nato ist jetzt aber deutlich massiver aufgetreten.

Das ist richtig. In diesem Jahr war ein Helikopterträger dabei – das war das größte US-Kriegsschiff, das seit den Achtzigerjahren in der Ostsee unterwegs war. Das war wirklich etwas Besonderes. Generell sehen wir seit 2014 mehr und größere Schiffe, die auch kriegerischer wirken. Die Planung, welches Schiff bei einer solchen Übung dabei ist, läuft aber zum Teil Jahre im Voraus, es ist also nicht alles dem Krieg geschuldet. Aber die generelle Richtung ist schon deutlich.

Müssen also auch die Russen das Auftreten der Nato als Machtdemonstration verstehen, als „Show of Force“?

Insgesamt würde ich das Auftreten der Nato als wohlabgewogen bezeichnen. Als Bündnis ist sie hier aus meiner Sicht ein Stück weit zurückgenommen. Das sind Nato-Mitglieder, die hier gemeinsam unter US-Führung unterwegs waren, aber man wollte eben bewusst nicht signalisieren, dass die Nato hier in der Gesamtheit auftritt, sondern eher als eine Koalition der Willigen.

Die Ostsee ist ein sehr kleines Meer, auf engstem Raum kommen sich hier russische und westliche Schiffe extrem nah. Wie groß ist da generell die Gefahr auch einer unfreiwilligen Konfrontation?

Das ist richtig, die Ostsee ist aus sicherheitspolitischer Sicht ein sehr besonderes Meer. Man ist hier auch jederzeit nah an den Küsten. Das bedeutet, dass jedes Kriegsschiff, das sich hier bewegt, in unmittelbarer Gefahr bewegt. Das klingt jetzt vielleicht reißerisch, aber so ist es. Das ist Hochtechnologie auf See mit politischem und militärischem Zweck. Das Potenzial für Kollisionen und Missverständnisse ist hier durchaus hoch.

Der „Whisky on the rocks“-Zwischenfall

Zumal es schon in der Vergangenheit immer wieder Zwischenfälle gab.

Der berühmte „Whisky on the rocks“-Zwischenfall vor allem, als zu Beginn der Achtzigerjahre ein russisches U-Boot der Whisky-Klasse in den schwedischen Schären auf Grund lief und nicht mehr freikam. Im Kalten Krieg gab es häufiger solche Meldungen, aber zuletzt auch wieder. Da wurde mal ein Seekabelverleger aus dem Baltikum von russischen Schiffen gestört, 2016 gab es die Überflüge russischer Jets über einen US-Zerstörer, die ihm so nahe kamen, dass es internationalen Kollisionsverhütungsregeln zweifellos nicht mehr entsprach. Die Datenlage ist schwierig, man erfährt nicht von jedem Zwischenfall. Aber es gibt auf der Ostsee schon ein Katz-und-Maus-Spiel mit hohem Risiko. Wenn ein Schiff oder U-Boot mal wieder auf Grund läuft, dann bedeutet das gleich eine internationale Krise.

Ist das Risiko größer als an Land?

Ja. Eine Marine ist sehr flexibel. Sie könnten mit ihr aggressiv auftreten oder weniger aggressiv, sie ist mit ihrer Vielfältigkeit sozusagen das Schweizer Taschenmesser der Sicherheitspolitik. Dieses erhöhte Risiko ist die Kehrseite dieser Flexibilität. Wenn es zu einer Kollision oder einem Konflikt kommt, ist die Eskalationsgefahr groß, weil ein Schiff immer Teil eines Verbands ist und eine große Symbolkraft hat. Zugleich aber können es sich weder die Russen noch Finnen, Schweden oder Deutsche erlauben, einfach ein Schiff zu verlieren, weil es vielleicht gerade auf der Suche nach einem Eindringling ist. Das wirkt dann wieder ausgleichend und beruhigend.

Auftritt russischer Atom-U-Boote: „Hanebüchen und gefährlich“

Durch den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands werde die Ostsee gleichsam zum Nato-Binnengewässer, hieß es zuletzt häufiger. Wie sind denn die Kräfteverhältnisse auf der Ostsee? Welche Bedrohung geht von Russland auf der Ostsee aus?

Die russische Flotte ist insgesamt überschaubar, und der Verlust des Flaggschiffs im Schwarzen Meer, der „Moskwa“, hat nachhaltig dazu geführt, die Moral der russischen Marine zu untergraben. Früher ist Russland alle zwei Jahre mit einem riesigen Atom-U-Boot in der Ostsee aufgetaucht, was absolut gefährlich und hanebüchen war, weil es für die Ostsee völlig überdimensioniert war. Aber man zeigte eben: Wir sind eine Atommacht und haben Atom-U-Boote.

Und heute?

Verglichen mit der Schwarzmeer-, der Nordmeer- und der Pazifik-Flotte ist die Baltische Flotte die kleinste und die am wenigsten gut ausgestattete. Da gibt es keine großen Flugzeugträger, Kreuzer oder U-Boote. Dazu hat Russland nur eine sehr kleine Küstenlinie, rund um Sankt Petersburg und Kaliningrad. Russland versucht dennoch, seine Machtstellung zu zementieren, aber primär eben auch über Raketen, die im Kaliningrader Gebiet stationiert sind.

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Die größte Marine der Ostsee – zumindest nominell

Wie steht es um die Deutsche Marine? Ist sie so schwach wie das Heer?

Die Deutsche Marine ist mit ihren 46 Schiffen nominell die größte der Ostsee. Aber das ist eine eher theoretische Größe. Wir müssen ja auch am Horn von Afrika, im Mittelmeer oder rund um Norwegen präsent sein. Dazu kommen Ausbildungszeiten, Werftzeiten etc. Tatsächlich ist die Marine die kleinste aller Zeiten. Dazu verfügen wir noch über 16.000 Marinesoldatinnen und -soldaten, also etwa 10 Prozent der Gesamtstärke der Bundeswehr. Die Marine ist operativ völlig überlastet. Aber es fehlt auch an der intellektuellen und kognitiven Bandbreite, um darüber nachzudenken, welche Marine man wofür eigentlich braucht. Wie müsste die Deutsche Marine aufstellen mit Blick auf die kommenden 20, 30, 40 Jahre? Da fehlt es bislang an einer Strategie.

Und welche würden Sie empfehlen?

Wir brauchen mehr Besatzungen, Munition, Logistik, eine politische Einordnung und ein Bewusstsein für die Chancen und Risiken des maritimen Raums. Da geht es weniger um klassische Gefechte der Marine, um Seeschlachten. Das 21. Jahrhundert ist ein maritimes Jahrhundert, mit seinen Migrationsbewegungen über das Meer, dem Klimawandel, dem steigenden Meeresspiegel. Dazu kommt die Bedeutung des Seehandels mit der Containerschifffahrt für die Globalisierung. Es gibt so viele maritime Aspekte der Sicherheitspolitik, dass sich die politisch Verantwortlichen entscheiden müssen: Was für eine Marine wollen wir eigentlich? Und die Antwort muss dann auch bezahlt werden. Genau das.

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