Messerattacke in RegionalzugWie Ersthelfer Jan Siefke den tödlichen Angriff in Brokstedt erlebt hat

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Passanten trauern um die Opfer auf dem Bahnsteig im Bahnhof von Brokstedt. Bei einer Messerattacke in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg sind am 25.01.2023 zwei Menschen getötet und sieben verletzt worden.

Passanten trauern um die Opfer auf dem Bahnsteig im Bahnhof von Brokstedt.

Jan Siefke hatte nach dem Angriff in einem Regionalzug versucht, einer verletzten Frau zu helfen. Dann musste er selbst um sein Leben rennen.

Es ist ein besonders grauer Januarmorgen. In Brokstedt in Schleswig-Holstein ist die tödliche Messerattacke vom Vortag überall Thema: im Bäckerladen, im Supermarkt, auf der Straße. Die Menschen sind erschüttert über die Bluttat, durch die zwei junge Menschen getötet und sieben verletzt wurden. Jan Siefke (25) aus Weddelbrook (Kreis Segeberg) saß in dem Regionalzug, hat versucht, Erste Hilfe zu leisten. Für uns ist er am Tag danach noch einmal zum Bahnhof nach Brokstedt gekommen, um zu erzählen und zu zeigen, was er hier erlebt hat. Eine schlaflose Nacht liegt hinter ihm.

Jan Siefke hat bereits ein Psychologiestudium abgeschlossen und danach begonnen, in Kiel Medizin zu studieren. Von dort kam er auch am Mittwoch mit dem Regionalzug RE70. Er wollte nach Hause, so wie viele Tage zuvor. Es war kurz vor 15 Uhr, als drei Mädchen in seinen Waggon stürmten und um Hilfe riefen. Dann hielt der Zug. „Wir sind alle hinausgestürmt. Ich wollte weglaufen, hörte dann aber die Frage: Kann jemand Erste Hilfe leisten?“

Student wollte Wunde mit Gürtel stillen

Der Medizinstudent kommt ins vierte Semester. Er verfügt über weitaus mehr medizinische Kenntnisse als die meisten Menschen. Weglaufen – das war für den jungen Studenten nicht denkbar. Denn plötzlich stand eine blutüberströmte Frau vor ihm. Andere Helfer hatten versucht, die stark blutende Wunde am Kopf mit einem Schal zu stillen. „Das geht natürlich nicht, dafür ist ein Druckverband nötig“, sagt Jan Siefke.

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Aber woher nehmen? Also zog er seinen Gürtel aus der Hose, wollte ihn um den Kopf der Frau binden. „Er war viel zu lang.“ Dann schrie jemand: „Er kommt wieder.“ Alle rannten weg. „Ich hatte Angst um mein Leben.“

Der Fluchtweg führte ihn über die Bahngleise, durch ein Wohngebiet. „Wir wussten nicht, wohin. Ich wollte nur noch nach Hause.“ Dann sah Jan Siefke zufällig Stefan Gärtner, den Bürgermeister seines kleinen Wohnortes. Der hat ihn mit seinem Auto mitgenommen.

Angst vor der nächsten Bahnfahrt

Am nächsten Tag liegt Hochnebel über Brokstedt, das Wetter passt zur Stimmung der Menschen in dem 2000-Einwohner-Ort. Trauernde haben Kerzen auf dem Bahnsteig aufgestellt. Drei Wachleute der Deutschen Bahn passen auf, dass sie nicht gestört werden.

Anne Fellmann ist aus dem Nachbarort Armstedt (Kreis Segeberg) zum Supermarkt gekommen. „So etwas hier in Brokstedt“, ruft sie einem Bekannten auf dem Parkplatz zu. „Ich will demnächst nach Frankfurt mit dem Zug. Ich habe Angst davor.“

In den Edeka-Markt, der nur wenige Schritte vom Bahnhof entfernt liegt, war am Vortag eine Verletzte nach der Messerattacke im Regionalzug geflüchtet. „Sie wurde hier versorgt, was aus ihr wurde, weiß ich nicht“, sagt eine Verkäuferin.

Nach der Messerattacke: Ich gucke mir an, wer einsteigt

Dann rollt ein Zug in den Brokstedter Bahnhof. Er ist fast leer, ein junger Mann steigt aus. „Es ist ein komisches Gefühl, jetzt Zug zu fahren“, berichtet der Brokstedter. „Ich habe mir vor dem Einsteigen genau angesehen, wer alles auf dem Bahnhof wartet.“ Wonach er die anderen Fahrgäste bewerte? Augenfarbe? Haarfarbe? Verhalten? „Ich möchte dazu nichts mehr sagen“, antwortet der junge Mann und geht weiter.

Medizinstudent Jan Siefke wird wohl auch wieder in den Zug steigen, um zum Universitätsklinikum nach Kiel zu kommen. An diesem Donnerstag will er keine Vorlesung besuchen. „Ich habe kaum geschlafen, ich bekomme die Bilder nicht aus meinem Kopf.“

Besonders bedrücke ihn, dass er nicht weiß, was aus der blutüberströmten Frau wurde. „Gehört sie zu den Verletzten oder sogar zu den Toten? Ich weiß es nicht.“ Als Psychologe weiß er, dass solche Erlebnisse schwere Folgen für die Psyche eines Menschen haben, ihn traumatisieren können. „Ich werde mir vielleicht professionelle Hilfe holen“, sagt er. (RND)

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