Nach 100 Tagen Krieg in der UkraineKriegsmüdigkeit, Putins mächtigste Waffe

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Mariupol Theater

Ein russischer Soldat in der ukrainischen Stadt Mariupol.

Nach 100 Tagen Krieg wird eine makabre Spaltung spürbar: Das Leid in der Ukraine wächst, das Interesse im Westen aber lässt nach. Ukraine-Müdigkeit heißt das Phänomen, das der Nato zunehmend Sorge macht – und Wladimir Putin in die Hände spielt. 

Egal was passiert, irgendwann wollen die Leute einen Themenwechsel. Das war sogar im Zweiten Weltkrieg so. Am 1. September 1939 räumte die „New York Times“ ihre komplette Titelseite frei für das Geschehen in Europa. Die deutsche Armee habe Polen angegriffen, hieß es in einer Schlagzeile, die sich ausnahmsweise quer über die ganze Seite erstreckte: Immerhin ging es um eine Zeitenwende. 100 Tage später allerdings sah die Welt schon wieder anders aus.

Die Titelseite vom 9. Dezember 1939 war kleinteilig wie immer, mit einem Fokus aufs eigene Land. Es ging ums Steuerrecht und die Arbeitslosigkeit. Viel Raum nahm ein Unwetter ein, das über die Staaten Connecticut und New York gezogen war: Der Sturm schob eine Fähre auf eine Sandbank im Hudson River, 25 Männer, Frauen und Kinder steckten dort fest – „für fast neun Stunden“.

Alles zum Thema Annalena Baerbock

Die eigentliche Sensation stand zwischen den Zeilen. In New York war man des Krieges müde geworden, schon nach einem Vierteljahr.

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Heute, nach 100 Tagen Krieg in der Ukraine, gibt es in der EU und den USA ein ähnliches Phänomen wie im Dezember 1939.

„Lasst uns zu anderen Themen übergehen”

„Wir haben einen ,Moment of Fatigue' erreicht“, sagte Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock jüngst auf Englisch bei einem Auftritt vor internationalen Medien bei einer Ostseekonferenz. In den europäischen Gesellschaften werde zum Thema Ukraine mittlerweile gesagt, „nun dauert der Krieg schon seit Monaten an, lasst uns zu anderen Themen übergehen“. Fatigue bedeutet Müdigkeit. Das Wort kommt aus dem Französischen, es hat Einzug gehalten ins Englische, vor allem zur Beschreibung von Erschöpfungszuständen.

Linke Kritiker von Baerbock gingen sofort an die Decke, auch wegen steiler Übersetzungen: Es könne ja wohl nicht wahr sein, schimpften viele, dass nun ausgerechnet eine grüne Ministerin „vor Kriegsmüdigkeit warnt“. Das Magazin „Freitag“ forderte Baerbocks Rücktritt.

Dabei hatte Baerbock nicht vor Kriegsmüdigkeit gewarnt, sondern einfach nur vor Müdigkeit. Schon damit allerdings trifft sie exakt ins Zentrum einer strategischen Debatte, die unter Insidern schon seit Wochen läuft.

Im Hauptquartier der Nato, in Regierungszentralen der EU und in Europas außenpolitischen Denkfabriken wird flüsternd über das Risiko von „Ukraine fatigue“ gesprochen, als gehe es um eine neue Geheimwaffe von Wladimir Putin.

Täglich sterben rund 100 ukrainische Soldaten

Tatsache ist: Die Aufmerksamkeit der westlichen Öffentlichkeit wandert derzeit, zentimeterweise zumindest, weg von der Ukraine – und das in einem Moment, in dem dort das Leid zunimmt. Russlands Militärwalze, die sich langsam, aber mit konzentrierter neuer Wucht durch die Ostukraine schiebt, lässt derzeit Tag für Tag etwa 100 tote ukrainische Soldaten zurück, deutlich mehr als zu Kriegsbeginn,

Das Interesse an diesem Horror aber lässt nach. Bei Google in den USA stürzte die Zahl von Suchanfragen zur Ukraine ab auf Vorkriegsniveau. Bei Twitter in Deutschland trendeten dieser Tage die Themen Neun-Euro-Ticket und Tankkostenzuschuss.

Solidaritätsdemos für die Ukraine gibt es zwar noch. Oft aber sind es eher Hunderte als Tausende, die sich da versammeln. Es ist, als ziehe ein kalter Hauch durch die gesamte westliche Welt.

In Polen wird jetzt über die Kosten diskutiert

In Polen, wo in einer beispiellosen Kraftanstrengung 3,5 Millionen Ukrainer aufgenommen wurden, beginnt jetzt eine Debatte über die Kosten. Man könne „eine gewisse Müdigkeit“ nicht leugnen, sagt ein Sprecher der Caritas in Warschau. In Frankreich fordern rechte und linke Oppositionelle schnelle Friedensgespräche mit Moskau“ – als habe es Putin jemals an westlichen Gesprächspartnern gefehlt.

In Italien kündigte der hemdsärmlige Chef der rechten Lega, Matteo Salvini, sogar eine eigene Friedensmission Richtung Moskau an. Im Frühjahr 2023 sind in Italien Parlamentswahlen. In Österreich bat die Zeitung „Standard“ diese Woche 1000 Befragte, 26 vorgegebene politische Anliegen nach Priorität zu ordnen. Auf Platz 1 kamen „Maßnahmen gegen die Inflation“. Platz zwei ging an „Sicherung der Pensionen“. Das Anliegen „Solidarität mit der Ukraine“ rangiert auf Platz 23.

Auch in den USA ist „Ukraine fatigue“ mit Händen zu greifen. Die Amerikaner, führend bei den Waffenlieferungen, sind mittlerweile auch führend beim Rauslassen von populistischem Frust. Mit dem 40-Milliarden-Dollar-Paket für die Ukraine, das verblüffend schnell durch den Kongress gewunken wurde, hat sich Präsident Joe Biden nicht nur Freunde gemacht. „Es wäre schön, wenn unser Präsident sich auch mal um die Lage in unserem eigenen Land kümmern würde“, ätzte im US-Fernsehen eine Frau an einer Tankstelle. Die Preisschilder im Hintergrund zeigten nie dagewesene Zahlen.

Putin spielt die Situation in die Karten

Für Putin ist die gesamte neue Szenerie wie gemalt. Allerorten verunsichert die Inflation breite Schichten der Bevölkerung, vor allem jene mit niedrigem Bildungsgrad und geringer Arbeitsplatzsicherheit. Die Ukraine-Politik kann zum neuen anti-elitären Sammlungsthema des Jahres 2022 werden, wie 2015 die Wut über Flüchtlinge und 2018 die vor allem in Frankreich eskalierten Proteste gegen die Klimapolitik.

In der Ukraine selbst verstehen viele Menschen die westliche Welt nicht mehr. „Was genau hat Leute, die gar keinen Bezug zu Land und Leuten haben, so müde gemacht?“, fragt die ukrainische Autorin Ariana Gic - und wird sarkastisch: „Sind es die Berichte über russische Kriegsverbrechen und den Völkermord an Unschuldigen?“

Zu besichtigen ist aber in Wahrheit kein charakterlicher Defekt. Hinter dem nachlassenden Interesse und Mitleid stehen universelle psychologische Mechanismen, denen sich keine Gesellschaft entziehen kann.

Menschen wollen stets zurück zur Normalität

Der Mensch strebt, auch wenn etwas Schreckliches geschieht, sobald wie möglich zurück zur Normalität. Dabei walten urzeitliche Programmierungen in den Tiefen unseres Hirns: Wir sind seit Jahrtausenden darauf getrimmt, uns selbst und die eigene Sippe zu versorgen. Man mag diese Mechanismen belächeln, man kann sie gefährlich finden. Aber man kann ihre Existenz nicht leugnen. In der sturen Konzentration aufs Naheliegende, die Nahrungsbeschaffung etwa, lag in Zeiten, in denen unsere Vorfahren noch Höhlen bewohnten, ein Selektionsvorteil. Und bis heute helfen uns diese Programmierungen, Schocks wegzustecken.

„Wenn in Europa ein Krieg beginnt, halten natürlich alle inne“, sagt Deutschlands bekanntester Angstforscher, der Göttinger Psychiater und Neurologe Borwin Bandelow. Er zieht Parallelen zu tierischem Herdenverhalten: Alle spitzen erstmal die Ohren und rücken zusammen. Das Geplappere hat Pause, alle scharen sich um die Leithammel.

Bald aber, wenn erwiesen ist, dass keine akute Gefahr droht fürs eigene Leben und den eigenen Stamm, verändert sich das Verhalten wieder - und am Ende laufen auch die zeitweilig verstummten Diskussionen wieder kreuz und quer. „Diesen Ablauf kennen wir schon“, sagt Bandelow. „Wir haben ihn nach dem 11. September 2001 ebenso gesehen wie zu Beginn der Coronakrise.“

Es schlägt die Stunde der Querdenker

Fürs Thema Ukraine heißt das: Die Zeiten, in denen ohne vernehmbaren Widerspruch der von Russland begonnene völkerrechtswidrige Angriffskrieg als solcher verurteilt wurde, gehen zu Ende. Es schlägt die Stunde der Querdenker, egal ob es um alternative Betrachtungen der Kriegsgründe geht oder um die Verantwortung für die aktuellen Preissteigerungen. Noch deuten die Regierungen von Washington bis Warschau wacker auf Putin als den Schuldigen. In den kommenden Monaten jedoch könnten sie selbst noch zum Sündenbock gemacht werden. Moskaus Manipulateure sind schon dabei, die Debattenlage zu drehen.

Durch die westlichen Waffenlieferungen, sagt Moskau, sei der Konflikt erst „eskaliert“. Der Westen habe sich also alle seither entstandenen Preissteigerungen, die Weizenknappheit und natürlich auch die im kommenden Winter drohende Energiekrise, selbst zuzuschreiben. Die Klarheit des Denkens bleibt dabei auf der Strecke. Ist es etwa eine kritikwürdige Eskalation, wenn das Opfer einer Vergewaltigung sich wehrt? Doch grundsätzliche Einwände dieser Art spielen, wenn Russlands weltweite Propagandamaschinerie auf Touren kommt, keine Rolle mehr.

„In den kommenden Wochen und Monaten wird Putin versuchen, uns zu verwirren“, warnen die Desinformationsexperten Rory Finnin und Jon Roozenbeek von der britischen Universität Cambridge. Zu erwarten sei eine ganze „Flut von Botschaften“. Der frühere KGB-Mann Putin wolle dabei nicht etwa einen Aufstand im Westen anzetteln. Ihm genüge es schon, „uns auf bequeme Inseln der Apathie zu führen“.

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