Nordstream 1 ist abgestelltWarum Gas-Händler (noch) ruhig bleiben

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NOrd Stream 1 Lubmin 100722

Lubmin: Gasempfangsstation der Pipeline Nord Stream 1 

  • Am 11. Juli haben die Wartungsarbeiten an der Gas-Pipeline Nordstream 1. begonnen
  • Wird Putin den Hahn spätestens am 22. Juli wieder aufdrehen?
  • Besuch beim Gashändler Sven Hendrik Hesse beim deutschen Versorger MVV Energie AG. Er erklärt, wie der Gasmarkt funktioniert.

Berlin – Und wieder ist es so ein verrückter Morgen, wie es sie so viele gab in den letzten Monaten. 190 Euro für eine Megawattstunde Gas, mit diesem Preis startet der Handel in den Tag, nur um dann noch am Vormittag, gegen 10 Uhr, auf in diesen Zeiten schon wieder fast beruhigende 172 Euro hinabzustürzen und gerade mal eine Stunde später wieder auf 185 Euro zu steigen – immer noch rund zehnmal mehr, als Gas auf dem Spotmarkt, dem Markt für die kurzfristigen Käufe, im Schnitt vor einem Jahr kostete. „Das ist im Moment brutal“, so kommentiert es ein Experte, der auch die Bundesregierung in diesen Fragen berät, beim Blick auf die Fieberkurve dieses Tages. Und auf all das muss sich Sven Hendrik Heese nun einen Reim machen. Und einen Weg finden, damit umzugehen.

Heese, 47 Jahre alt, ist der oberste Gashändler der MVV Energie AG, früher bekannt als Mannheimer Stadtwerke, heute ein bundesweit tätiges Unternehmen, das 1000 Industriekunden und über Beteiligungen auch Privatkunden weit über die Region hinaus in ganz Deutschland beliefert. Mit jenem Gut also, um das Deutschland mit Blick auf den Winter gerade mehr bangt denn je zuvor. Heese selbst ist seit 19 Jahren Energiehändler und ein Mann, dem Unruhe eher wesensfremd ist. „Aber eine solche Situation habe ich auch noch nicht erlebt“, sagt er. „Dass ein Vertragspartner seinen Verpflichtungen nicht nachkommt“, gemeint ist natürlich Russland, „haben wir noch nicht gesehen.“

In diesen Zeiten nun müssen Heese und seine sieben Kolleginnen und Kollegen dafür sorgen, dass immer genug Gas eingekauft wird, möglichst zu günstigen Preisen. Das war in den vergangenen Monaten schon anspruchsvoller. Und von diesem Montag an könnte es noch etwas schwieriger werden.

Denn dieser 11. Juli könnte rückblickend einen Einschnitt markieren: Als der Tag, an dem Russland seine Gaslieferungen nach Deutschland einstellt. Fest steht, dass von heute an kein Gas mehr durch die Pipeline Nord Stream I strömen wird, weil Russland wegen einer Wartung diesen Hahn für etwa zehn Tage gänzlich zudreht. So weit, so erwartbar, turnusgemäß, seit langem angekündigt.

Der Kreml widerspricht

Doch die Frage ist, ob Wladimir Putin anschließend den Hahn auch wieder öffnet. Oder ob er die Gelegenheit nutzt, den Westen für seine Waffenlieferungen an die Ukraine auf diese Weise zu schwächen, zu verunsichern, zu strafen. Es gibt bislang kein Zeichen, dass es dazu kommt, der Kreml weist solche Befürchtungen zurück. Aber in den vergangenen Wochen hat Russland die Liefermengen hier bereits um gut 60 Prozent reduziert, mit fadenscheinigen Begründungen.

Niemand weiß derzeit, was Putin plant. Ob in ihm der Kriegstreiber überwiegt, der um jeden Preis die westliche Unterstützung für die Ukraine brechen will. Oder der Ökonom, der die astronomischen Preise für zusätzliche Gewinne nutzt. Vor einem „politischen Albtraum-Szenario“ warnte am Sonntag im Deutschlandfunk Wirtschaftsminister Robert Habeck. Deutschland, das ist seine Botschaft, müsse sich wappnen. Aber wie?

Theoretisch, in normalen Zeiten, klingt die Aufgabe von Gashändlern, 2000 gibt es etwa in Deutschland, überschaubar. Sie hätten eine „Vermittlerposition“, so sagt es Deutschlands oberster Energiehändler-Vertreter, Marcel Steinbach, Abteilungsleiter Handel und Beschaffung beim Bundesverband der Energiewirtschaft: „Sie sorgen dafür, dass immer so viel Gas, wie verbraucht wird, auch in das System reinkommt.“

Nur gibt es, auf beiden Seiten, Unbekannte. Beim Verbrauch ist das zum Beispiel das Wetter, weswegen Gashändlerinnen und -händler eine besondere Affinität zu langfristigen Wetterprognosen haben.

Gutes Erdgas, böses Erdgas

Und auf der anderen Seite sind da zum Beispiel die Weltkrisen. Sie verändern auch den Blick auf ein bis dahin neutrales gut. „Bis zum 24. Februar“, dem Tag des Kriegsbeginn, „gab es im globalen Erdgashandel nur Erdgas“, sagt Steinbach. „Die Unterscheidung von Erdgas auf Grund der Herkunft gab es nicht. Erdgas war Erdgas.“ Doch seit jenem Tag gibt es auf einmal zwei Sorten Erdgas: Gutes Erdgas, das bleibt. Und böses Erdgas, das bald ausbleiben könnte.

Bei Händler Heese bestimmt der russische Überfall auf die Ukraine von Beginn mit den Tag. An seinem Schreibtisch blickt er auf sechs Bildschirme. Sie zeigen Kurse, Chartverläufe an den Börsen, auf einem laufen Nachrichten. Was da läuft, hilft dieser Tage mehr denn je, die Kurven auf den anderen Monitoren zu verstehen. Zum Beispiel den plötzlichen Rückgang des Gaspreises am Vormittag – für Heese die Reaktion auf die ersten Andeutungen, dass Kanada eine gewartete Nord-Stream-I-Turbine trotz Sanktionen nach Deutschland liefern werde.

Hysterische Märkte

„Das nimmt Russland einen Vorwand, um Nord Stream I nicht wieder in Betrieb zu nehmen“, sagt Heese. Erst zwei Tage später, am Sonntag, wird diese bis dahin vage Aussicht tatsächlich zur Gewissheit, bestätigt Kanada die Lieferung. Aber in diesen Tagen können auch Gerüchte, Vagheiten oder früher Unwichtiges die Preise erschüttern. In der Vorwoche war es der Streik norwegischer Bohrfeldarbeiter, der den Gaspreis binnen Stunden um 20 Euro in die Höhe katapultierte.

Experten halten die Märkte derzeit für fast schon hysterisch. „Wir gehen fest davon aus, dass sich in den aktuellen Höchstpreisen auch ein hohes Maß an Nervosität widerspiegelt“, sagt Gashandels-Fachmann Steinbach.

Dass der Gashändler Heese in Mannheim dennoch eine gewisse Zuversicht ausstrahlt, kann man nun zum einen psychologisch erklären. „Das ist wie im Flugzeug“, sagt er. „Wenn die Situation brenzlig wird, muss man eher ruhiger werden.“

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Doch zum anderen gibt es auch sachliche Gründe, die ihn und seine Kunden von den bisweilen besonders panischen Märkten ein Stück weit entkoppeln – denn Heese kauft dort nur in Ausnahmefällen ein. „Wir haben Kunden, die ihre Gasmengen über einen sehr langen Zeitraum sichern. Wir kaufen sehr früh“, sagt er. Nicht in Russland direkt, sondern an Börsen wie der Leipziger EEX oder Großhändlern wie dem Düsseldorfer Unternehmen Uniper. Sie sind es, die Händlern wie Heese wiederum langfristige Preise garantieren und die Mengen beschaffen müssen – und wegen Krieg und Gaskrise nun von der Bundesregierung gestützt werden sollen.

Nur wenn Kunden jetzt kurzfristig bei ihm oder anderen Versorgern weitere Mengen brauchen, muss sich auch Heese auf dem teuren Markt der Kurzfristigkeit einkaufen. „Da geben wir die Preise dann auch weiter“, sagt er. Vor allem da also schlagen die Preise bislang voll durch.

Die Zuversicht von Händler Heese gründet auch darauf, dass es Deutschland zumindest bislang gelungen ist, die ausbleibenden russischen Lieferungen einigermaßen auszugleichen. So ist in den Statistiken des Bundesverbandes der Energiewirtschaft (BDEW) deutlich zu sehen, wie der Anteil russischen Gases am deutschen Verbrauch seit Jahresbeginn deutlich zurückging – während der Anteil von Gas aus den Niederlanden und Norwegen parallel stieg, auf zusammen zuletzt rund 62 Prozent. Außerdem hat Deutschland in diesem Jahr bis jetzt rund zehn Prozent weniger Gas verbraucht als im Vorjahr.

Furcht vor der Panik

Für Heese sind das alles positive Zeichen. „Wir glauben, dass Russland auch nach der Wartung ein Interesse daran haben wird, Gas zu liefern, um weitere Einnahmen zu erzielen“, erklärt er. Schwankungen seien „beherrschbar und eingepreist“, die Mengen „abgesichert“, sein Schlaf folglich ungestört: „Wir werden die Situation jederzeit im Griff haben.“

Es geht ihm, wie vielen Gashändlern derzeit, darum, jene Unruhe zu vermeiden, die die Situation nur noch schwieriger machen würde. Nur gibt es auch jene Punkte, über die auch er, genau wie der Großteil seiner Branche, ungerne spricht. Zum Beispiel die, wie weit die Verträge seiner Privatkunden in die Zukunft reichen – und ab wann einzelne Versorger gezwungen sein werden, langfristige Verträge zu weit schlechteren Konditionen abzuschließen. Die dann wiederum an alle Verbraucher weitergegeben werden müssen.

Nord Stream 1 wird maximal zehn Tage gewartet

Und schließlich ist da auch die offene Frage, wie weit Russland gehen könnte. Denn nicht nur über Nord Stream I erreichte Putins Gas zuletzt Deutschland; dem Krieg zum Trotz fließt Gas auch durch die Transgas-Leitung durch die Ukraine und eine Pipeline durch die Türkei Richtung Westen, zusammen ungefähr so viel wie durch Nord Stream I. Wie viel davon aus Russland selbst stammt, vermögen auch Experten kaum zu beziffern, der BDEW selbst gibt an, hier auf „plausible Schätzungen und Annahmen“ angewiesen zu sein.

So unangenehm diese Aussicht also ist: Vieles wird nun von der Entscheidung Wladimir Putins abhängen. Experten sagen, dass zehn Tage für die Wartung der Ostsee-Pipeline sehr großzügig gerechnet seien. Am 21. oder 22. Juli dürfte also zumindest vorläufig klar sein, worauf sich Händler Heese, seine Kunden und der Rest von Deutschland in Sachen Gas einstellen müssen.

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