Sieben Wochen ExtremzustandSoldaten am Rande der Erschöpfung

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Ein ukrainischer Soldat steht auf einer Straße im Kiewer Stadtteil Lukyanivka.

Kiew/Moskau – Mit etwa 190.000 Soldaten hatte Russland an diesem Donnerstag vor sieben Wochen seinen ersten Großangriff auf die Ukraine begonnen. Seitdem sind mehr als 15.000 russische Soldaten laut Expertenschätzungen ums Leben gekommen. Auf Seiten der Ukraine sind nach ukrainischen Angaben etwa 1500 Soldaten gefallen, die tatsächliche Zahl dürfte laut dem Militärexperten Gustav Gressel etwas darüber liegen. Unabhängig überprüfen lässt sich dies nicht.

Die Moral in der russischen Armee ist am Boden, meinen Militärexperten und der ukrainische Geheimdienst. „Mental sehe ich einen ganz klaren Vorteil bei der Ukraine“, erklärte Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Generell seien Soldaten, die etwas zu verteidigen haben, in einer ganz anderen moralischen Verfassung als die Angreifer. „Wenn es dann noch um das eigene Vaterland und die eigene Familie geht, erzeugt das ganz andere Gefühle als auf russischer“, betonte Kühn. Zudem sei es für viele Militärangehörige nicht einfach, ein Brudervolk zu überfallen.

„Es gibt auf russischer Seite eine Frustration“

Hinzu kommt, dass die erhofften militärischen Erfolge rund um Kiew ausgeblieben sind und im Süden und im Osten der Ukraine trotz wochenlangem Beschuss wichtige Städte und Regionen nicht unter russische Kontrolle gebracht wurden. „Es gibt auf russischer Seite eine Frustration“, so Kühn. Daneben seien Erschöpfung und Verrohung zwei weitere Gefühle, die bei einer so langen Zeit im Kriegsmodus auftreten.

„Es gibt Berechnungen, die sagen, dass Soldaten nur fünf bis sieben Wochen kämpfen können und dann ausgewechselt werden müssen.“ Die Frustration über ausbleibende Erfolge und hohe Verluste könnten laut Kühn auch zur Verrohung der Soldaten führen.

Physischer und mentaler Kraftakt

Doch nicht nur physisch, sondern auch mental zermürbe ein wochenlanger Krieg wie in der Ukraine die Soldaten, so der Militärpsychologe Hubert Annen von der Schweizer Armee. „Denn das Ende des Kriegs und damit des persönlichen Einsatzes dafür ist nicht absehbar.“ Der Dozent von der Militärakademie der ETH Zürich sagte dem RND, dass Krieg immer eine Extremsituation für Soldaten sei.

„Sie schlafen wenig, die Ernährung ist schlecht und sie stehen dauernd unter Adrenalin, weil ihr Leben Tag und Nacht in Gefahr ist.“ Außerdem seien die Soldaten die ganze Zeit zwangsläufig zusammen und voneinander abhängig. Dieses andauernde Zusammensein in der Gruppe könne Soldaten belasten.

Motivation entscheidend

Allerdings kann die Gruppe auch einen positiven Effekt haben, ist sich Sicherheitsexperte Oberst a. D. Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik (swp) sicher. „Der Zusammenhalt in der Gruppe, das gegenseitige Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Kameraden und eingeübte Abläufe spielen für die Motivation eine ganz wichtige Rolle“, so Richter im Gespräch mit dem RND. Die Gruppe könne mentale Probleme des einzelnen Soldaten auffangen.

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Nach einer so langen Zeit im Krieg müsse man aber mit unterschiedlichen Szenarien in der russischen Armee rechnen. „Eine Gewöhnung und Abstumpfung“ könnte sich laut dem Militärexperten Richter zum Beispiel einstellen. „Der Gewöhnungseffekt kann von Apathie bis hin zu einer Routine reichen“, in der Soldaten den Kriegszustand als Normalität betrachten. „Die Soldaten gewöhnten sich an ein Leben in ständiger Lebensgefahr.“

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