„Was wir danach machen, weiß ich nicht“Wie Kiew Putins Terror trotzt

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Feuerwehr Drohnen Kiew 171022

Ukrainische Feuerwehrleute arbeiten an einem Wohnhaus in Kiew nach russischem Drohnenbeschuss.

  • Raketen auf Spielplätze, Kamikaze-Drohnen auf Wohnhäuser: Russlands Präsident will die Moral der Menschen in der ukrainischen Hauptstadt brechen.
  • Deren Bewohner denken aber nicht daran, klein beizugeben – ganz im Gegenteil.
  • Ein Besuch in der ukrainischen Haupstadt.

Kiew/Moskau – Als die Sirenen in Kiew Luftalarm vermelden, suchen Halyna Stefanova und ihre Mutter Nadia Schutz im Treppenhaus. „Das hat uns das Leben gerettet“, sagt die Tochter, als sie am Tag darauf vor den Trümmern des Gebäudes steht. In der Erdgeschosswohnung hat sie bislang mit ihrer Mutter gewohnt, daran wird angesichts der Zerstörung künftig nicht mehr zu denken sein. Fünf Nachbarn in dem Haus in der Zhylianska-Straße haben den russischen Angriff mit einer iranischen Drohne am Montag nicht überlebt, darunter eine schwangere Frau.

Eines der Opfer ist am Dienstag gerade erst geborgen worden. Die Tote liegt in einem schwarzen Leichensack, nur wenige Meter entfernt von dem Haus.

Auf der Straße vor der Ruine haben die Rettungskräfte gesammelt, was sie in den Trümmern gefunden haben – den Motor der Drohne, eine Armbanduhr, eine Handtasche, ein iPhone. Auch ein ukrainischer Reisepass ist dabei, ausgestellt auf Hanich, Tetiana, geboren am 7. August 1963. Die blonde Frau blickt auf dem Foto ernst in die Kamera.

Tetiana war Krankenschwester, sie hat im Dachgeschoss gelebt und ist unter den Toten. „Das waren unsere Freunde“, sagt die 40-jährige Halyna Stefanova über die verstorbenen Nachbarn. Die Überlebende klingt, als könne sie kaum fassen, was da geschehen ist.

Vor ihrem früheren Zuhause wartet Stefanova nun auf ihre Katze Yulia, Helfer haben das Tier in den Ruinen gehört und wollen es bergen. Bevor das geschehen kann, müssen die Rettungskräfte Teile des Dachs entfernen, das einzustürzen droht. Einer der Helfer ist dafür an einen Kran angeseilt worden und arbeitet sich mit einer Kettensäge oben auf dem vierstöckigen Haus voran.

„Was wir danach machen, weiß ich nicht“

Auf einer Seite des Treppenhauses hat die Drohne in den oberen drei Stockwerken die Außenwand der Wohnungen pulverisiert. Von den zur Straße gelegenen Zimmern ist nichts mehr übrig geblieben. Unten sticht ein grüngelber Farbklecks aus der verkohlten Trümmerlandschaft hervor. Es ist die Haustür, auf die Nadia Stefanova in besseren Zeiten eine Wiese mit Sonnenblumen gemalt hat. Tochter Halyna sagt, zwei Nächte könne sie mit ihrer Mutter bei einem Cousin unterkommen. „Was wir danach machen, weiß ich nicht.“

Die Motivation des russischen Präsidenten Wladimir Putin, dessen Angriffskrieg gegen ihr Heimatland ihre Nachbarn getötet und sie sowie ihre Mutter obdachlos gemacht hat, sei ihr ein Rätsel – obwohl sie Psychologin sei. „Vielleicht ist er verrückt.“ Ihr fehlten die Worte, um zu erklären, was sie für Putin empfinde, sagt sie. Zumindest solche Worte, die gesellschaftsfähig seien. Sie klingt verzweifelt, als sie mit Blick auf ihr früheres Zuhause hinzufügt: „Das ist doch kein militärisches Ziel.“

Raketen auf den Spielplatz

Lange Zeit ist die ukrainische Hauptstadt von russischen Luftangriffen weitgehend verschont geblieben. Nach dem Angriff auf die Brücke von Russland auf die Krim ist Kiew wieder in Putins Visier gerückt. Die jüngsten Raketen- und Drohnenangriffe lassen keinen Zweifel daran, dass Russland dort zivile Ziele angreift – allen Dementis aus Moskau zum Trotz.

Am Spielplatz im Taras-Shevchenko-Park füllt ein Bagger den tiefen Krater auf, den der Raketeneinschlag dort hinterlassen hat. Außerhalb des Parks ist eine Rakete im morgendlichen Berufsverkehr auf einer Straßenkreuzung detoniert, umliegende Gebäude wie das „Haus des Lehrers“ haben kein Glas mehr in den Fenstern.

Kiew Drohnen Angriff 171022

Rettungskräfte sind am Ort eines russischen Drohnenangriffs im Stadtzentrum von Kiew im Einsatz.

Unweit des Hauses der Stevanovas steht das Tower-Business-Center – oder das, was von dem Hochhaus mit Büros und Geschäften geblieben ist. In der einstigen Glasfassade klaffen auf breiter Front Löcher, die Wand des brasilianischen Restaurants im Erdgeschoss existiert nicht mehr, im Innenraum sind die Überreste der Theke zu sehen. Vor dem Hochhaus wehen noch die Flaggen Deutschlands, der EU und der Ukraine. Bis zum Luftangriff war hier die Visastelle der deutschen Botschaft untergebracht.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist ein Heizkraftwerk getroffen worden. In der unmittelbaren Nachbarschaft des Tower-Business-Centers sind ein Wohngebäude und ein Restaurant durch Raketeneinschlag schwer beschädigt. In einem Innenhof zwischen den Gebäuden parken noch Autos – Totalschaden. In den Trümmerhaufen finden sich Sandalen wie Küchenzubehör, Spielzeug, ein Katzenklo.

Ukrainische Freiwillige von der Organisation Shvydka Diya (auf Deutsch in etwa „Schnelle Aktion“) helfen, die Trümmer wegzuräumen. Einer davon ist Yevhen Bovsunov, der zu den russischen Angriffen meint: „Das ist Terrorismus.“ Es habe keinerlei militärische Rechtfertigung für einen Angriff auf Zivilistinnen und Zivilisten gegeben. „Aber wir haben keine Angst. Stattdessen werden wir nur wütender. Die Angriffe schweißen uns zusammen.“ Bovsunov ist überzeugt davon, dass die Ukrainer sich vom großen Nachbarn nicht kleinmachen lassen. „Putin kann unsere Moral nicht brechen.“

Versuch einer Normalität

Ähnlich klingt der Chef von Shvydka Diya, Eldar Seitablaiev. Die Organisation räumt nicht nur das Chaos auf, die mehr als 230 Freiwilligen unterstützen außerdem Feuerwehr und Rettungskräfte bei den Bergungsarbeiten. „Die ganze Welt sieht jetzt, dass Russland kein Land ist, mit dem man verhandeln kann“, sagt Seitablaiev, der von der Krim stammt, jener Halbinsel, die Russland 2014 annektiert hat. „Russland ist böse und unmenschlich, ein Terrorstaat.“ Ob er einen Angriff Russlands auf Kiew mit taktischen Atomwaffen für denkbar halte? „Alles ist möglich“, sagt der 36-Jährige. Schließlich habe bis zum Kriegsbeginn am 24. Februar auch kaum jemand damit gerechnet, dass Russland tatsächlich in die Ukraine einmarschieren werde.

Wenige Tage nach Kriegsbeginn stand die russische Armee kurz vor Kiew, inzwischen wurden Putins Truppen zurückgeschlagen. Checkpoints und Panzersperren der ukrainischen Streitkräfte sind aus dem Zentrum der Hauptstadt verschwunden. Kenner der Millionenmetropole sagen, nach dem russischen Einmarsch habe Kiew „wie eine Festung“ gewirkt, an jeder Straßenecke habe das Militär gestanden. Als die Invasoren aus der Umgebung vertrieben waren, sei im Sommer Normalität eingekehrt.

Die Wiederaufnahme der Luftangriffe habe nun aber dazu geführt, dass die Menschen vorsichtiger geworden seien und lieber zu Hause blieben. Wo sie auch nicht sicher sind. Auch am Dienstag ist Kiew wieder Ziel von russischen Angriffen. Kraftwerke im Osten der Hauptstadt werden getroffen. Vizebürgermeister Petro Panteelev sagt danach, wieder seien Menschen ums Leben gekommen, außerdem seien Zehntausende ohne Strom. Aber: „Wir versuchen, das Leben so normal wie möglich weiterzuführen, soweit das unter diesen Umständen möglich ist.“

Auf den ersten Blick wirkt das Leben in Kiew tatsächlich normal. Geschäfte sind geöffnet, Menschen pendeln zur Arbeit, kurz nach Feierabend stehen die Autos im Berufsverkehr an den Ampeln im Stau. Cafés und Restaurants sind schon mittags gut besucht, Pärchen schlendern händchenhaltend durch die Innenstadt. Am Abend treffen sich Freunde und Familien im besten Herbstwetter draußen auf einen Snack oder einen Drink. Fast könnte man vergessen, dass zwischen 23 Uhr und 5 Uhr eine Ausgangssperre gilt.

Spätestens auf den zweiten Blick ist der Krieg dann aber doch allgegenwärtig. Am Empfang des City-Hotels in der Innenstadt steht bei entsprechender Bedrohungslage ein Schild mit folgender Aufschrift: „Liebe Gäste, Luftalarm! Während eines Luftalarms steigt unser gesamtes Personal in den Luftschutzkeller hinab. Wir kehren zurück, sobald es sicher ist. Vernachlässigen Sie nicht Ihre Sicherheit – folgen Sie uns bitte an einen sicheren Ort!“

Demütigung für Moskau

Jeder Gang durch die Stadt erinnert letztlich daran, dass die Ukraine im Krieg ist – aber auch daran, dass die Regierung in Kiew der in Moskau in Sachen PR weit überlegen ist. Vor der Stadtverwaltung Kiews steht eine riesige Leinwand, darauf abgebildet ist eine Briefmarke der Post, die die Krim-Brücke in einer Zeichnung in Flammen zeigt. Es ist eine Demütigung Moskaus, vor der sich Ukrainerinnen und Ukrainer in großer Regelmäßigkeit fotografieren lassen.

Schon davor hatte die ukrainische Post eine Briefmarke herausgegeben, auf der ein Soldat abgebildet ist, der dem später versenkten russischen Raketenkreuzer „Moskwa“ auf der Schlangeninsel den Mittelfinger zeigt.

Wer nach dem Krim-Brücke-Motiv die Khreshchatyl-Straße über den Majdan-Platz weitergeht, kommt an einen monumentalen Bogen, der einst die Freundschaft zwischen der Ukraine, Russlands und Belarus symbolisieren sollte. Inzwischen ist auf den Betonbogen ein unübersehbarer, tiefschwarzer Riss gepinselt worden.

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Nur einen Fußmarsch entfernt von der Stadtverwaltung ist der Mykhailivskyj-Platz, auf dem erbeutetes russisches Kriegsgerät zur Schau gestellt wird. Auch hier fotografieren sich Ukrainerinnen und Ukrainer gegenseitig, vor verrostenden Panzerfahrzeugen, die nie wieder ins Kampfgeschehen involviert sein werden. An dem Platz steht auf Englisch auf einem Transparent an einem Denkmal: „Welt – hilf uns“. Wenige Meter weiter erinnern an der Mauer einer Kirche Porträts gefallener Soldaten an den Blutzoll, den die Ukraine in diesem Krieg mit Russland bezahlt.

Der Chef der Feuerwehrwache 4 in Kiew, Serhiy Khyzhuk, sagt, der Kampfeswille der Ukrainerinnen und Ukrainer sei noch lange nicht gebrochen. Die Arbeit für sein Team sei seit Kriegsbeginn viel härter geworden, seine Leute gingen im Notfall auch bei Luftalarm raus. Niemand sei dabei ganz frei von Angst, sagt der 31-Jährige, „aber wir haben hier einen Job zu erledigen“. Womöglich werde der Krieg noch lange dauern. Er habe aber keinen Zweifel daran, dass die Ukraine ihn am Ende gewinnen werde.

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