Schüler können immer schlechter lesenLernen mit Prinzessin Lillifee

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Mentor Andreas Endermann begleitet ein Kind beim Lesenlernen - das Bild zeigt die beiden, wie sie in einem Buch lesen, das vor ihnen auf dem Tisch liegt.

Mentor Andreas Endermann begleitet ein Kind beim Lesenlernen.

„Mentor“ ist bundesweit im Einsatz, um Kinder und Jugendliche im Schulalltag zu unterstützen. Die ehrenamtliche Leselernhilfe kämpft gegen ein weit verbreitetes Defizit. Auch in Köln und Umgebung ist der Verein engagiert.

Lesen? Eine Qual. Die Buchstaben tanzten vor Janines Augen, die Worte wollten einfach nicht aus dem Mund heraus. Für die Sechsjährige, ein temperamentvolles und witziges Mädchen, schien es ein Ding der Unmöglichkeit, einen einzigen Satz lesend zu verstehen, geschweige denn auszusprechen. Das machte den Schulalltag zur Tortur und nagte gefährlich am Selbstbewusstsein. Bis Janine Alex traf, ihren Lesementor.

Der junge Mann radelt einmal in der Woche in der Mittagspause zu Janines Schule, um mit ihr für eine Dreiviertelstunde lesen zu üben. Für ihn ist es „eine schöne Auszeit“, wie er sagt – für sie „der Hammer“. Lesen macht ihr mittlerweile sogar Spaß.

Mindeststandards verfehlt

Die beiden sind Teil eines Projekts, in dessen Rahmen bundesweit mehr als 13 000 Mentorinnen und Mentoren fast 17 000 Kinder und Jugendliche darin unterstützen, eine elementare Fähigkeit zu beherrschen – eine Fähigkeit, die gerade nach Corona zum regelrechten Problemfall geworden ist.

Im Oktober belegte eine Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler auf deutschen Grundschulen, die den Regelstandard in den Kompetenzbereichen Lesen, Zuhören und Orthografie sowie Mathematik erreichen, 2021 im Schnitt zwischen acht und zehn Prozent gesunken ist. Gleichzeitig hat der Anteil der Kinder, die am Ende der vierten Klasse den Mindeststandard verfehlen, in allen Bereichen zwischen sechs und acht Prozentpunkten zugenommen.

Verglichen wurde der aktuelle Stand mit den Zahlen aus dem Jahr 2016, und bekräftigt wird der Befund durch Ergebnisse einer Untersuchung, die die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz Ende vergangener Woche vorlegte.

Andrea Pohlmann-Jochheim kümmert sich um die Weiterbildung der Mentorinnen und Mentoren.

Andrea Pohlmann-Jochheim kümmert sich um die Weiterbildung der Mentorinnen und Mentoren.

„Was der Mentor oder die Mentorin leisten kann, ist Lesefreude zu wecken und Erfolgsmomente für die Kinder zu organisieren. Wenn eine positive emotionale Beziehung hergestellt wird, wirkt sich dies auf den Leseerfolg aus“, sagt Andrea Pohlmann-Jochheim, Mitbegründerin des Kölner „Mentor“-Vereins und im Bundesvorstand engagiert für die Weiterbildung der ehrenamtlich tätigen Leselernhelfer.

„Unser Prinzip lautet: Bildung durch Bindung. Eine Mentorin oder ein Mentor arbeitet mit einem Kind einmal in der Woche für eine Stunde über ein Jahr hinweg, und zwar in einer Atmosphäre, die von Geduld und Humor geprägt wird - das ist die Basis der Förderungsphilosophie. Das entsprechende Kind wird vorher von einer Lehrkraft benannt, wir arbeiten also eng mit den Schulen zusammen, auch schon deswegen, weil die Lesestunden in den Schulen stattfinden.“

Mentoren können Lesefreude wecken und Erfolgsmomente für die Kinder organisieren

2003 wurde der Verein von dem Hannoveraner Buchhändler Otto Stender ins Leben gerufen. Über die Jahre hat er sich als Erfolgsmodell erwiesen, das dem bundesdeutschen Bildungssystem gleich mehrere Lehren erteilt: wie sehr dieses System private Initiativen wie „Mentor“ nötig hat, aber auch, wie hilfreich solche Förderung den herkömmlichen Schulunterricht unterstützen kann.

Und noch etwas zeigt „Mentor“ – dass es noch sehr viel mehr solcher Initiativen bedürfte, denn den 16 600 Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und 16 Jahren, die der Verein unterstützt, steht eine niederschmetternde Zahl der TU Dortmund vom März dieses Jahres gegenüber. Danach können 190 000 Viertklässler nicht ausreichend lesen. „Mentor“ stellt deswegen auch eine politische Forderung: Gerade nach Corona müssten mehr Ehrenamtliche an die Schulen, nicht nur für die Leseförderung, um die Defizite zu beheben.

Vier Worte Deutsch

Als Sude Kapcak mit zwölf Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam, konnte sie nur vier deutsche Worte sprechen. „Alles war neu, die Sprache, das Umfeld“, erinnert sie sich. „In der Schule habe ich nur wenig verstanden und konnte kaum etwas sagen. Ich hatte Angst, aufgerufen zu werden. Besonders schlimm waren für mich Vorträge vor der Klasse. Einmal bin ich einfach nicht hingegangen. Mein Lehrer hat mir das Programm von ‚Mentor’ nahegelegt, und so habe ich meine Lesementorin Monika Becker kennengelernt.“ Mittlerweile hat Sude ihr Abitur.

Im Vordergrund steht, dass die Kinder selber lesen – vorgelesen wird wenig, etwa zu dem Zweck, den Fortschritt einer Geschichte erlebbar zu machen. Man müsse sich von der Vorstellung lösen, dass ganze Bücher gelesen werden können, sagt Andrea Pohlmann-Jochheim. Es sei wichtig, die Anforderungen so gering wie möglich zu halten.

„Grundsätzlich ermutigen wir unsere Mentorinnen und Mentoren dazu herauszufinden, durch welchen Lesestoff sich das Kind begeistern lässt. An dieser Stelle machen wir sehr deutlich, dass es sich hier nicht um Nachhilfelehrer handelt und dass sich die Mentorinnen und Mentoren durchaus auch von Ansprüchen seitens der Lehrkräfte abgrenzen müssen.“

Comics kommen auch zum Einsatz

Würde man den Schulstoff lesen, bestehe die Gefahr, dass sich die Negativerfahrungen aus dem Unterricht wiederholen könnten. Insofern versucht „Mentor“, ein breites Lektürespektrum herzustellen, von Fußballgeschichten über die „Prinzessin Lillifee“ bis zum „Räuber Hotzenplotz“. Auch Comics kommen zum Einsatz, weil sich viele Kinder von den Illustrationen angesprochen fühlen und leichteren Zugang zu den Texten finden.

Eine fortwährende Herausforderung stellt die Finanzierung des Vereins dar. Lektürekisten der Stiftung Lesen wurden von Aldi finanziert, andere Unternehmen geben Geld, doch kontinuierlich wird „Mentor“ nur vom Hauptförderer Rossmann unterstützt. Das Bundesbildungsministerium gab über drei Jahre hinweg Geld, Stiftungen sind eine weitere Quelle, aber: Es gibt keine Regelförderung, obwohl man eine so wichtige gesellschaftliche Rolle übernehme, so Pohlmann-Jochheim. Eine Regelförderung wäre wichtig, um wenigstens die Geschäftsstellen und die dort Mitarbeitenden kontinuierlich finanzieren zu können.

Andrea Pohlmann-Jochheim war bis 2017 bei der Volkshochschule Köln als Programmbereichsleiterin Politische und Kulturelle Bildung tätig; als Astrid Freudenberger, die ehemalige Leiterin der Volksbühne, „Mentor“ in Köln initiierte, stieß sie dazu: VHS, Volksbühne, die SK Stiftung und das Büro für Bürgerengagement der Arbeiterwohlfahrt bildeten die Steuerungsgruppe, die das Projekt 2010 in der Comedia Colonia vorstellte.

Die VHS steht nach wie vor für die Qualifikation und Weiterbildung der Mentorinnen und Mentoren bereit, auch in Fragen der Digitalisierung. Rund 700 Mentorinnen und Mentoren sind in Köln im Einsatz, jedes Alter ist dabei, wobei die Gruppe der über 60-Jährigen dominiert. „Wir sprechen von eher bildungsbenachteiligten Kindern“, sagt Andrea Pohlmann-Jochheim, „von Kindern, die aus dem System Schule herausfallen oder gefährdet sind, an diesen Punkt zu kommen, weshalb es uns außerordentlich wichtig ist, dass die Mentorinnen und Mentoren gut auf die verantwortungsvolle Aufgabe mit den Kindern vorbereitet werden.“

INFO

In Nordrhein-Westfalen gibt es insgesamt 47 „Mentor“-Vereine. Außer in Köln ist der Verein im Umland unter anderem in Leichlingen, Leverkusen, Bergheim, Brauweiler, Frechen, Hürth, Brühl, Erftstadt, Hennef, Rösrath, Overath und Bergisch Gladbach aktiv.

Kontakt für Interessierte und Spender: „Mentor“ – die Leselernhelfer, Grafenwerthstraße 92, 50937 Köln, Tel. 0221 16 84 47 44

www.mentor-bundesverband.de


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