Übertragung von Amateur-FußballspielenSo profitieren Kölner Klubs von Livestreams

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Sportstotal

Die Hightech-Geräte sind etwa siebeneinhalb Meter über dem Boden  befestigt. 

Köln – Die Erschöpfung war groß, doch die Lust auf Fußball größer. Am Abend des 25. Oktober 2018 hätte Oliver Thoss dringend Schlaf benötigt. Doch trotz Fiebers saß der damalige Sportchef des SV Deutz 05 kerzengerade auf der Couch seines Wohnzimmers in Poll. Als sein Team kurz vor Schluss das 0:1 kassierte, hätte er den Laptop am liebsten wieder zugeklappt. Schließlich drohte das fünfte sieglose Spiel in Folge. Doch Thoss blieb am Bildschirm und durfte so mitansehen, wie Maximilian Büsch erst den Ausgleich und in der Nachspielzeit sogar den Siegtreffer für die Rechtsrheinischen erzielte. „Ich bin aufgesprungen und für einen Moment war ich wieder kerngesund“, erinnert sich der heutige Sportchef des SV Westhoven-Ensen gut an das Flutlichtspiel gegen Breinig.

Das Live-Erlebnis aus der Ferne hatte Thoss einer winzigen Kamera zu verdanken, die der SV Deutz nach dem Mittelrheinliga-Aufstieg auf Höhe der Mittellinie installiert hatte. Das 7,5 Meter über dem Boden an einem Mast befestigte Hightech-Gerät bringt bis heute die Heimspiele der 05er direkt ins Wohnzimmer – genauer gesagt auf die Streaming-Plattform „sporttotal.tv“. Ganz ohne Kameramann und Übertragungswagen.

Die Kamera lernt dazu

Möglich macht dies eine auf Künstlicher Intelligenz (KI) basierende Software, die mithilfe eines Algorithmus den relevanten Bildausschnitt identifiziert und das Spielgeschehen vollautomatisch verfolgt. Sie orientiert sich zu 70 Prozent am Ball und zu 30 Prozent am Schwarmverhalten der Akteure. „Die Kamera ist darauf trainiert, wie ein Mensch zu filmen“, sagt sporttotal-Experte Thomas Kuhlewind. „Und sie lernt jeden Tag dazu.“ Wenn sich bei einem Erdabstoß kein Spieler in Strafraumnähe befindet, zoomt die Kamera (in Erwartung eines langen Balls) frühzeitig heraus, um den Bildausschnitt zu vergrößern.

Grenzen der künstlichen Intelligenz

Der KI sind jedoch Grenzen gesetzt. So lockte die in der Sonne schimmernde Glatze eines Linienrichters die Kamera schon einmal auf die falsche Fährte. Sie wurde für den Ball gehalten und geriet unfreiwillig in den Mittelpunkt der Übertragung. „Die Technik wird den Menschen nie ganz ersetzen können“, räumt Kuhlewind ein.

Für Thoss ist die Live-Übertragung trotzdem „ein Segen für alle Fans, gerade in Zeiten von Corona und Geisterspielen. Selbst im Urlaub verpassen sie keine Partie mehr.“ Die Trainer nutzten die Videos hinterher zur Taktikschulung. „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, so der frühere Keeper. „Aber ein Video sagt mehr als tausend Bilder.“

Grob

Der Deutzer Niklas Grob (rechts) profitierte von den Übertragungen via Livestream, weil er nach einem Blick auf die Bilder vom Vorwurf einer  Tätlichkeit freigesprochen wurde. 

Auch Andreas Dick, Coach des Landesligisten Borussia Lindenthal-Hohenlind, ist froh über die „Hilfe von oben. Ich sehe schon viel, aber nicht so viel wie unsere Kamera mit 180-Grad-Panoramablick. Es hilft, sich die 90 Minuten hinterher noch mal anzuschauen – ganz ohne Emotionen.“ Manchmal bewahren die Aufzeichnungen Spieler auch vor einer Sperre. So wurde der Deutzer Niklas Grob vom Vorwurf einer Tätlichkeit freigesprochen, nachdem sich seine Rote Karte als klarer Irrtum entpuppt hatte.

Monatsbeitrag von 9,90 Euro

„Ein weiterer Vorteil ist der erschwingliche Preis“, so Thoss. „In Deutz kamen wir mit einem Monatsbeitrag von 9,90 Euro und Stromkosten jährlich auf maximal 300 Euro.“ Zudem habe der Anbieter die Kosten für die Installation (inklusive Erdarbeiten für Stromleitungen) übernommen – ebenso wie für die Anfertigung der Schilder, die am Eingang aus Datenschutzgründen auf die Kamera hinweisen müssen. Mit dem Betreten der Anlage erklärt man sich einverstanden mit der Live-Übertragung und späteren Veröffentlichungen, etwa via Social Media.

Eine Kamera kann sich für die Klubs sogar rentieren. Der Verkauf von Werbeflächen auf „sporttotal.tv“ (auf der jeweiligen Vereinsseite und während des Live-Streams) bringt einem Mittelrheinligisten bis zu 14 000 Euro pro Saison ein. Klubs können auch Bezahlschranken einbauen lassen. „Fünf Euro sind gut zu vertreten“, sagt Kuhlewind. Das Paywall-Modell biete sich für „Topspiele“ an, von denen vier im Monat übertragen würden. „Dann sind wir mit unserem Team live vor Ort, kommentieren die Partie und führen Interviews.“

800 Systeme auf deutschen Plätzen

„Sporttotal.tv“ ist eine Streaming-Plattform für den Amateurfußball und weitere Sportarten. 800 Systeme wurden auf Deutschlands Plätzen bereits installiert, die meisten davon in Bayern. In Köln und Umgebung sind der 1. FC Köln II, Fortuna Köln, Bonner SC (alle Regionalliga), SV Deutz, FC Hennef (beide Mittelrheinliga), Lindenthal-Hohenlind und der SSV Merten (beide Landesliga) mit einer Kamera ausgestattet.

 Als erster Verein deutschlandweit überträgt der BSC seine Spiele mit einem in die Kamera integrierten 5G-Modul – und demnach nahezu in Echtzeit. Dank der Kooperation mit dem DFB ist der Streaming-Dienst mit der Plattform „fussball.de“ verknüpft. Wann sich die Kameras automatisch an- und ausschalten, richtet sich nach der dort hinterlegten Anstoßzeit. Zudem können die Liveticker-Informationen auf „fussball.de“ in den sporttotal-Livestream eingespeist werden. Pro Kamera trägt „sporttotal.tv“ Investitionskosten im niedrigen fünfstelligen Bereich. Neben der Unterstützung seiner Gründungs- (Allianz, Telekom), Kooperations- (fussball.de), Plattform- (Hyundai), Content- (FUMS) und Medienpartner (Bild) ist man in erster Linie auf Werbeerlöse angewiesen.

Nicht nur Amateurfußball wird gestreamt, sondern auch Bundesliga-Basketball und -Volleyball. 2021 bringt man ein Coaching-Tool auf den Markt, das unter anderem Heatmaps erstellt. Mit dem Essener Start-Up „soccerwatch.tv“ gibt es eine weitere Streaming-Plattform, die sich bislang vor allem dem Amateurfußball im Ruhrgebiet widmet. Mit Siegburg 04 hat man unlängst den ersten Mittelrheinligisten als Kunden gewonnen. (tim)  

Doch auch die Live-Übertragung ohne Schnickschnack kommt an. Im Schnitt verbucht Borussia Lindenthal-Hohenlind 350 Zugriffe (Unique Clicks), der SV Deutz sogar 400. Der Regionalligist Fortuna Köln lockt bis zu 18 000 Besucher vor den Bildschirm. Die Angst mancher Vereine, die Zuschauer könnten vom Sportplatz aufs Sofa getrieben werden, ist laut Kuhlewind „unbegründet. Manchmal ist es sogar umgekehrt: Der eine oder andere wird überhaupt erst aufmerksam auf einen Verein und entschließt sich zu einem Stadionbesuch. Die rückläufigen Zahlen wurden eher aufgehalten.“

Zuschauerschwund bleibt aus

Auch Thoss hat in Deutz keinen Zuschauerschwund feststellen können. „Den Sportplatz-Flair kann keine Internetübertragung ersetzen“, sagt er. „Die Leute wollen weiter mit Bier und Bratwurst am Spielfeldrand fachsimpeln.“ Laut dem 41-Jährigen ist der Profifußball „der viel größere Killer. Wenn sonntags parallel der 1. FC Köln läuft, hängen in Deutz fast alle Zuschauer im Vereinsheim vor der Leinwand. Dieser Kampf wurde längst verloren.“

Einen anderen hat Sebastian Fröhlingsdorf noch nicht aufgegeben. Der Deutzer Geschäftsführer hofft, dass künftig auch Nachwuchsspiele aufgezeichnet werden dürfen. Zum einen könnte man so „ein paar Euros hinzuverdienen. Zum anderen sollten wir unseren Spielern die beste Ausbildung ermöglichen – und Videoanalysen gehören nun einmal dazu. Wir wären auch bereit, die Aufnahmen nur für interne Zwecke zu nutzen.“

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Bislang hat die Stadt Köln nur grünes Licht für die Übertragung von Seniorenfußball (Mittelrhein- und Landesliga) gegeben. „Selbst wenn der Fußball-Verband Mittelrhein und die Stadt ihr Okay geben würden, müsste der Verein bei Minderjährigen zusätzlich das Einverständnis der Eltern einholen“, sagt Kuhlewind. „Zudem finden viele Jugendspiele auf Halbfeldern und häufig parallel statt. Darauf ist unser System nicht ausgerichtet.“ Das gelte erst recht für Trainingseinheiten, wo naturgemäß viele Bälle im Einsatz seien.

Vorerst bleiben die Kameras ohnehin offline, schließlich hat der FVM die Vereine vorzeitig in die Winterpause geschickt. Erst 2021 heißt es wieder: 22 Spieler und eine Kamera jagen den Ball.

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