FC-Legende Müller im Interview„Ich hatte das Gefühl, dass Engel im Zimmer waren“

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Dieter Müller, Stürmer des 1. FC Köln, (im weißen Trikot) im DFB-Pokalfinale 1978 gegen den Düsseldorfer Gerd Zimmermann.

Dieter Müller, Stürmer des 1. FC Köln, (im weißen Trikot) im DFB-Pokalfinale 1978 gegen den Düsseldorfer Gerd Zimmermann.

  • Für viele gilt Dieter Müller als der beste Mittelstürmer, den der 1. FC Köln je in seinem Kader hatte. Doch seine Karriere und sein privates Leben verliefen alles andere als geradlinig.
  • Im Interview spricht der einstige erfolgreiche Torjäger über sein Leben als Fußballer und die vielen Schicksalsschläge, die er hinnehmen musste – darunter den Tod seines einzigen Sohnes Alexander.
  • In einem knapp 100-minütigen Gespräch mit Stephan Klemm zeigt sich Müller so privat, wie man ihn zuvor vielleicht noch nie erlebt hat.

Dieter Müller, für den ehemaligen Torwart Toni Schumacher, der beste Mittelstürmer den der 1. FC Köln je in seinem Kader hatte, ist beim Whatsapp-Videocall bester Laune. In den nächsten gut 100 Minuten spricht der 66-Jährige ausführlich über sein Leben als Torjäger, der er in den 1970er und 1980er Jahren war, und die schweren Schicksalsschläge, die er hinnehmen musste. Denn das, was Müller in seinem Leben mitgemacht hat, klingt wie ein Kapitel aus dem Buch Hiob: Seine Eltern haben ihn kurz nach der Geburt zu den Großeltern gegeben. Als er wieder mit seiner Mutter in einer Familie lebte, starb sein Stiefvater kurz nachdem er Dieter Müller adoptiert hatte. Sein einziger Sohn Alexander erlag im Alter von 16 Jahren einem Hirntumor. Seine erste Ehe wurde geschieden. Seine Schwester wurde Opfer ihrer Alkoholsucht, und er selbst war nach einem 31-minütigen Herzstillstand 2012 dem Tod sehr nahe.

Entschuldigung, Herr Müller, aber nach all dem, was Ihnen widerfahren ist: Wie geht es Ihnen?

Körperlich und seelisch geht es mir bestens. Mein Leben ist nun wirklich irrwitzig verlaufen. Auch deshalb habe ich meine Erlebnisse in einem Buch aufgeschrieben. Das war für mich persönlich auch eine wichtige Vergangenheitsbewältigung.

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Geht es Ihnen mit Ihrem Buch vor allem darum, genau das zu zeigen: Dass das Leben zwar Schicksale bereit hält, die unerträglich sind, dass es aber dennoch ein Danach gibt, das sogar Freude wieder zulässt?

Das ist ein wichtiges Motiv für mich gewesen, ja. Eine andere wichtige Botschaft, die ich mit dem Buch vermitteln möchte, handelt vom Verzeihen – Menschen und dem Schicksal gegenüber. Und dass man trotz allem, was einem im Leben widerfährt, versucht, Dankbarkeit zu empfinden. Ich bin nicht verbittert über den Tod meines Sohnes, ich bin vielmehr dankbar, dass ich einen so wundervollen Menschen als Sohn hatte.

Das Weiterleben nach so einem furchtbaren Erlebnis ist Ihnen gleichwohl zunächst sehr schwer gefallen. Wie haben Sie es geschafft, diesen Schicksalsschlag für sich zu verarbeiten?

Ich habe dieses Schicksal angenommen und meine Lebensfreude deshalb nicht verloren. Doch dahin zu kommen, das war ein langer und harter Weg. Ich habe viel über das Thema Tod und Sterben vor der Zeit gelesen. Ich habe zudem versucht, aus allen Religionen einen Trost und einen Sinn für den Tod von Alexander zu finden. Aber es steckt kein Sinn dahinter. Doch Trost habe ich gefunden. Als mein Sohn starb, hatte ich das Gefühl, dass Engel im Zimmer waren und meinen Sohn in eine andere Welt geführt haben, die wir nicht kennen, von der wir nichts wissen. Das ist für mich eine schöne Vorstellung.

Auch das Thema Demut ist Ihnen sehr wichtig.

Unbedingt. Ich glaube, dass viele Menschen vergessen haben, was das ist. Ich wollte aber natürlich auch erzählen, wie das Leben eines Fußballers verlaufen kann.

In Ihrem Fußballerleben haben Sie bleibende Marken hinterlassen. Und schon 1973 haben Sie den Weg nach Köln gefunden, Sie waren 19 und kamen von Kickers Offenbach. Beim FC aber haben Sie gleich den Durchbruch zum Stammspieler geschafft. Warum fiel Ihnen im Rheinland so vieles leichter?

Ich bin als junger Kerl zum 1. FC Köln gekommen und war sofort im Team. Der FC war damals eine große Mannschaft mit großartigen Spielern wie Wolfgang Overath, Heinz Flohe, Herbert Neumann, Heinz Simmet oder Toni Schumacher. Ich war besessen davon, Tore machen zu wollen. Das hatte dem FC zuvor ein bisschen gefehlt. Der damalige FC-Manager Karl-Heinz Thielen hat das Auge gehabt, mich zu entdecken, mich zu holen und zu fördern.

Sie haben beim 1:1 im DFB-Pokalfinale 1977 gegen Hertha BSC und im Wiederholungsspiel getroffen, das 1:0 für Köln ausging. Jeweils mit Flugkopfbällen …

… das ist für mich unvergesslich. Vor allem auch, weil die Tore so schön waren.

Es folgte 1978 das Doublejahr mit dem Pokalsieg und der Meisterschaft in einem Jahr. Sie wurden zum zweiten Mal in Folge Torschützenkönig. War das die schönste Phase Ihrer Karriere?

In Deutschland schon. Es folgte ja noch meine Zeit bei Girondins Bordeaux von 1982 bis 1985, das war auch eine fabelhafte Epoche in meiner Laufbahn. Aber mit dem FC waren wir damals wirklich auf dem absoluten Gipfel. Das war überwältigend. Was beim Meisterschaftsempfang in Köln los war, das war unvorstellbar. Wir wurden wie Könige gefeiert, Hunderttausende säumten die Straßen. Meine Kölner Zeit war schon sehr besonders, weil ich die Mentalität der Kölner schätze.

Zur Person

Dieter Müller, geboren am 1. April 1954 in Offenbach, in zweiter Ehe verheiratet mit Johanna Höhl. Sein einziger Sohn Alexander verstarb 1997 im Alter von 16 Jahren an den Folgen eines Hirntumors. Dieter Müller spielte von 1973 bis 1981 beim 1. FC Köln ( 248 Spiele, 159 Tore), gewann DFB-Pokal (1977 und 1978) und Meisterschaft (1978). 1981 wechselte er zum VfB Stuttgart, 1982 bis 1985 spielte er bei Girondins Bordeaux. Dort wurde Müller zwei Mal französischer Meister. 12 Länderspiele (9 Tore), Vize-Europameister 1976.

Dieter Müller (mit Mounir Zitouni): Meine zwei Leben. Was mir das Schicksal genommen und der Fußball gegeben hat. Edel-Verlag. 22 Euro.

Der FC wurde 1983 noch ein weiteres Mal – ohne Sie – Pokalsieger. Danach kam aber nichts mehr. Hätten Sie das für möglich gehalten, damals, als Sie das Double gewannen?

Das ist wirklich komisch, der FC war damals ein absoluter Topklub. Aber es sind leider viele Fehler in Köln gemacht worden. Da kann es im Fußball ganz schnell gehen, dass eine Entwicklung in die falsche Richtung verläuft. Mein Eindruck jetzt ist aber, dass der Verein in ganz guten Händen ist.

In der Nationalelf hatten Sie einen sehr speziellen Einstieg. Sie haben im Halbfinale in Belgrad gegen Jugoslawien nach Ihrer Einwechslung drei Tore erzielt und gleich mit Ihrem ersten Ballkontakt zum 2:2 getroffen. Deutschland gewann schließlich mit 4:2.

Ja, da bekomme ich jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. In der Verlängerung war es dann so: Wenn du vorher schon ein Tor gemacht hast, besitzt du das Selbstvertrauen, dass du einfach weiter treffen kannst. Aber mit so einem Debüt umzugehen, das war nicht leicht. Da ist sehr viel auf mich eingeprasselt.

Wie ist es Ihnen gelungen, auf dem Boden zu bleiben?

Ich stamme aus bescheidenen Verhältnissen, das habe ich niemals vergessen. Ich habe damals, als meine Mutter mit meinem Vater, der auch ein Fußballprofi war, nach Herne gegangen ist – da war ich drei Monate alt –, bei meinen Großeltern gelebt, auf engem Raum. Das prägt. Wenn die Mutter dich mit drei Monaten weggibt, ist das schon unglaublich. Das Verhältnis zu meiner Mutter war immer schwierig. Sie hat später versucht, es gutzumachen, als sie mit dem Bauunternehmer Alfred Müller eine Familie gründete und mich mitnahm in sein Haus, das war für mich mein richtiger Vater, er hat mich 1972 adoptiert, wegen ihm heiße ich Dieter Müller, vorher hieß ich Dieter Kaster. Mein leiblicher Vater hat sich aber nie richtig für mich interessiert. Das ist noch so ein Beispiel für die irren Wendungen in meinem Leben. Alfred Müller war Millionär, da habe ich dann plötzlich in einem reichen Haushalt gelebt. Das waren so Extreme, die mein Leben geprägt haben.

Sieh haben fußballerisch noch etwas Bleibendes hinterlassen: Sechs Tore in einem Spiel, beim 7:2 im August 1977 in Köln gegen Werder Bremen. Das ist bis heute der Torrekord in einem Bundesliga-Spiel.

Damals war es übrigens gar nicht so leicht, Tore zu erzielen. Die Härte der Innenverteidiger war zu meiner Zeit furchterregend. Auch Horst-Dieter Höttges von Werder Bremen war so ein unfassbar brutaler Gegenspieler. Und dann kam der an diesem Abend in Köln auch noch mit roten Schuhen an. Da war ich sauer und aufgeladen. Dann kamen meine sechs Tore, vier davon habe ich mit dem Kopf direkt gegen den Höttges gemacht. Der war total überfordert.

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Nach Ihrer Karriere waren Sie Manager von Dynamo Dresden, später auch Trainer und bis 2012 sogar Präsident von Kickers Offenbach – bis Sie im selben Jahr fast an den Folgen eines Herzinfarktes gestorben wären.

31 Minuten war ich quasi tot. Meine Frau hat mich gefunden und die 112 angerufen, ein Rettungssanitäter hat ihr gesagt, was sie machen und wie sie mich beatmen soll. Nach zehn Minuten kamen die Sanitäter und nach 31 Minuten fing mein Herz wieder an zu schlagen. Ich war vier Tage im Koma. Ein Arzt hat zu meiner jetzigen Frau gesagt: »Wir wissen nicht, ob er überlebt. Und wenn, dann könnte es sein, dass er geistig nicht mehr derselbe ist.« 31 Minuten Herzstillstand, das kann man eigentlich gar nicht überleben. Ich habe es aber dennoch geschafft, ohne geistige Folgeschäden. Bewegen kann ich mich auch völlig normal. Das ist ein Wunder.

Leben Sie nach all Ihren Erfahrungen und diesem heftigen Erlebnis heute bewusster?

Oh ja. Ich weiß, dass ich mit der Tatsache, noch zu leben, ein Geschenk bekommen habe. Ich weiß, dass ich mich über nichts mehr ärgern sollte. Ich spüre und empfinde eine große Dankbarkeit. Ich habe nun auch meine Berufung gefunden, indem ich mit Kindern arbeite, die ich in meiner Fußballschule trainiere. Das gibt mir viel Kraft. Ich mache außerdem jedes Jahr ein Seminar Fasten-Schweigen-Meditieren. Ich meditiere oft. Das erdet mich. Das tut mir richtig gut.

Das Gespräch führte Stephan Klemm

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