WM-GastgeberWarum Russland seine Torhüter verehrt

Lew Jaschin, den sie auch den „Schwarzen Panther“ nannten, bei der Arbeit.
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Moskau – Lew Jaschin sieht traurig aus. Irgendwie entrückt. Oder einfach nur enttäuscht. Als hätte er einen Fehler gemacht, als wäre ein Spiel allein wegen ihm verloren gegangen. Sein Kopf ist gesenkt, links trägt er einen Ball und rechts beide Torwarthandschuhe, die ihm vor Kraftlosigkeit zu entgleiten drohen.
Zu Jaschins Füßen steht eine Grabkerze, auf glattem Beton prangen zwei vergoldete Jahreszahlen: geboren 1929, gestorben 1990. Und davor, auf einem rechteckigen Kunstrasenstück: rote und rosafarbene Nelken. „Er war der beste Fußballer, den wir jemals hatten“, sagt ein Mann, der am russischen Nationalfeiertag nur wegen Jaschin zum Wagankowoer Friedhof gekommen ist, aus dem Westen in den Ostteil der Stadt, knapp eine Stunde Metrofahrt. „Sehen Sie seinen Gesichtsausdruck?“ Pause. Ein Seufzer. Mutlose Stimme. „So werden bald alle Russen aussehen.“
An diesem Donnerstag beginnt die Weltmeisterschaft, im Olympiastadion Luschniki trifft der Gastgeber Russland auf Saudi-Arabien. Doch egal, wen man hier fragt in Moskau, die Vorfreude auf dieses Turnier hat kaum sportliche Gründe. Die meisten Russen trauen ihrer Mannschaft wenig zu, nicht mal das Achtelfinale. Einige noch weniger, nicht mal einen Gruppensieg. Sie tun das wohl zu Recht. Das Onlineportal „Sports.ru“ lässt seine Leser bereits im Voraus die Schuldfrage klären. Zwischenstand: alle zusammen. „Immerhin“, sagt der Mann auf dem Friedhof, „ist unser Nationaltrainer auch Torwart.“ Ein letzter Blick zu Jaschin. Ein Lächeln zum Abschied.
Russland auf Platz 70 der Weltrangliste
Kein Land verehrt seine Torhüter so sehr wie Russland. Auch nicht das Torhüterland der Tureks, Maiers, Kahns und Neuers. Vielleicht ist Stanislaw Tschertschessow ja nur deswegen nicht entlassen worden. Obwohl er keine nennenswerten Erfolge vorzuweisen hat mit der Sbornaja. In der Weltrangliste ist sie auf den historisch schlechtesten Platz 70 abgerutscht. Hinter Guinea, vor Mazedonien. Und deswegen auch gilt die russische Nummer eins, Igor Akinfejew, 32, immer noch als der größte Star dieser Mannschaft. Obwohl er ZSKA Moskau niemals verlassen hat. Die Gratiszeitung „Metro“ hat ihn zum Turnierstart aufs Cover gehoben. Zusammen mit Cristiano Ronaldo, Lionel Messi, Mohamed Salah und Julian Draxler, den die gelenkten Medien in Russland immer noch feiern für seinen offenen Brief („Was wir erleben durften, hat uns begeistert“) nach dem Confed Cup vor einem Jahr. Die Russen würden Draxler lieben, wäre er ein Torwart.

Russlands aktueller Kapitän und Torhüter Igor Akinfejew.
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Keine Position verkörpert nun mal besser die Wehrhaftigkeit, die Widerstandskraft gegen heranstürmende Gegner, den Schutz vor Feinden. Schon vor der Revolution 1917 war das so. Einen wahren Heldenstatus in der Sowjetunion erreichten Torhüter aber erst in den Dreißiger-Jahren. Diese furchtlos nach Bällen hechtenden Männer waren einerseits ein literarisch ergiebiger Stoff und ein beliebtes Motiv für patriotische Maler. In der Neuen Tretjakowgalerie, dem Staatsmuseum russischer Kunst, hängt ein Bild von Alexander Deineka. Es ist 1934 entstanden, heißt schlicht „Der Torwart“ – und es sieht so aus, als würde der Ball nicht reingehen.
Lange Haare, Handschuhe, Mütze
Torhüter sind andererseits Außenseiter, Individualisten, die sich allein schon farblich abheben vom Kollektiv einer Mannschaft. Dadurch auch von einer zu Uniformität erzogenen bis gezwungenen Gesellschaft. In Brasilien muss einer ins Tor. In Russland wollen es viele. Wollen selbst heute noch wie Jaschin sein. Jaschin war der Russe, den man sogar im Westen bewunderte. Er war das freundliche Gesicht der Sowjetunion. Er trug die Haare lang, sah schick aus mit seinem schwarzen Trikot, den schwarzen Handschuhen, die er als einer der Ersten trug, dazu eine Mütze. Jaschin war eloquent, charmant und sehr gesellig. Er trank gerne, rauchte vier Schachteln am Tag. „Ich rauche eine Zigarette, um die Nerven zu beruhigen“, sagte er, „und trinke anschließend einen Schluck Schnaps, um die Muskeln zu stärken.“ Vor dem Spiel. Und dann in der Halbzeit auf dem Kabinenklo.

Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow
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Jaschin hatte so gar nichts von einem kalten Krieger. Er galt zwar als systemtreu und arbeitete nach seinem Karriereende in der Fußballabteilung des Sportministeriums. Er war aber auch ein Entspannungspolitiker. Sowjetische Journalisten mussten ihre Begeisterung für einen Spieler immer mit dem Lob an alle mischen. Jaschin war dann ein „stählernes Sperrscharnier in einem präzise abgestimmten Räderwerk“. Von der Partei wurde er trotzdem vereinnahmt.
Lew Jaschin war der erste und letzte russische Fußballer, den man als modern bezeichnen konnte. Er war der weltbeste Torwart der Sechziger-Jahre. Der einzige, der jemals den Ballon d’Or erhalten hat, die Auszeichnung für den besten Fußballer Europas. Die Sowjetunion führte er 1956 zum Olympiasieg, vier Jahre später zum Europameistertitel. So etwas hatte man noch nie zuvor gesehen. Wie dieser Jaschin aus seinem Tor stürmte, Flanken wegfaustete, seine Abwehr orchestrierte, Steilpässe erlief und die Bälle weiter nach vorne warf, als andere schießen konnten. Das Abrollen zum Mitspieler soll er erfunden haben.
Jaschin blieb Dynamo Moskau treu
Real Madrid wollte ihn verpflichten. „Ich bin wirklich bereit, jeden Preis für ihn zu zahlen“, sagte Klubpräsident Santiago Bernabéu. „Aber letztlich ist jeder Betrag zu niedrig, weil Herr Jaschin nicht mit Geld aufzuwiegen ist.“ Jaschin blieb bei Dynamo Moskau. Wechselte niemals den Klub. Noch heute singen die Fans: „Nur Jaschin, nur Dynamo!“ Die Vergangenheit des russischen Fußballs ist stärker als ihre Gegenwart. Vielleicht sieht Lew Jaschin deshalb so traurig aus.