Kasper Hjulmand, Trainer bei Bayer 04 Leverkusen, spricht über Menschenführung, zu hohe Ticktepreise bei der WM und seine Sicht auf Social Media.
„Das Leben ist ein Teamsport“Bayer-Coach Hjulmand über Licht und Schatten im Fußballgeschäft

Leverkusens Trainer Kasper Hjulmand mit seinem Spieler Malik Tillman. Links: Simon Rolfes, rechts Mark Flekken.
Copyright: Jörg Schüler/Bayer 04
Herr Hjulmand, Sie waren jahrelang dänischer Nationaltrainer, arbeiteten dann beim Verband. Hätten Sie Anfang des Jahres geglaubt, dass Sie Ende 2025 wieder Vereinstrainer sein werden?
Nein. Vor genau einem Jahr hatte ich ein paar Angebote, die habe ich aber abgelehnt, weil ich das Campus-Projekt beim dänischen Verband vorantreiben wollte. Ich war seit 1998 Trainer. Mal raus zu sein, war sehr interessant, sehr schön. Ich bin ein neugieriger Typ – neugierig auf alles, was in der Welt so passiert. Es war eine großartige Zeit, in der ich so viele neue Perspektiven erkannt und fantastische Menschen kennengelernt habe. Ich hatte ein gutes Leben, war sehr zufrieden, hatte mich dem Job voll verschrieben. Also habe ich nicht damit gerechnet, so schnell wieder eine Mannschaft zu trainieren. Ich habe auch im Sommer einigen Klubs abgesagt.
Unter anderem auch Bayer 04. Aber dann kam Bayer 04 im September noch einmal…
Dann kam Leverkusen – und jetzt bin ich hier. Aber wenn man älter wird, lernt man etwas, das generell gilt, aber besonders fürs Fußballgeschäft: Man kann nichts planen. Deshalb lebe ich für den Moment, in dem ich mich gerade befinde. Und dann bin auch bereit, schnelle Entscheidungen zu treffen. Als Leverkusen im September anfragte, sagte ich: Nein. Aber eine Woche später nach einigen Gesprächen habe ich zugesagt. Und jetzt sitze ich drei Monate später hier und glaube gar nicht, dass es nur drei Monate gewesen sein sollen. Es ist so viel passiert. Es ist viel Neues auf mich eingeprasselt, es war sehr hektisch, aber ich bin glücklich. Ich fühle mich richtig angekommen und zu Hause.
Als Sie angekommen sind, haben Sie gesagt, dass kein anderer Klub außer Bayer 04 Sie von einem Trainerjob hätte überzeugen können. Warum?
Vielleicht war das eine kleine Übertreibung, aber es sind wirklich nur ganz, ganz wenige. Ich könnte jetzt aber auch keinen anderen Klub nennen. Das Gefühl, das mir Simon (Rolfes, Sportgeschäftsführer; Anm. d. Red.) und Fernando (Carro, Vorsitzender der Geschäftsführung; Anm. d. Red.) vermittelt haben, war entscheidend. Sie kennen mich, sie kennen meine Werte, wissen, wie ich über Fußball denke, wie ich Menschen führe, wie ich Fußballmannschaften entwickle. Das ist so wichtig für meine Arbeit. Ich bin zu alt, um Leute im Fußballgeschäft davon zu überzeugen. Das ist es mir nicht wert. Um ehrlich zu sein: Ich brauche diesen Job nicht, ich könnte andere Dinge mit meinem Leben machen. Ich bin hier, weil es ein interessanter Klub ist, der mit einem tollen Teamspirit große Dinge erreichen möchte. Bayer 04 träumt groß. Das gefällt mir. Und dabei gibt der Klub einem das Gefühl, dass wir das alle zusammen erreichen wollen. Ich will in meinem Bereich eine Atmosphäre schaffen, in der jeder - vom Spieler bis zu den Mitarbeitern - er selbst sein kann, sich ausleben kann. Wenn das gelingt, ist es wundervoll, in einem Fußballverein zu arbeiten. Das ist der schöne Teil dieses Geschäfts.
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Das erinnert mich an Ihre erste Pressekonferenz, als Sie sagten, Ihnen gefalle es nicht, wenn Menschen mit Labels versehen werden. Können Sie das bitte genauer erklären.
Wir leben in einer Zeit, in der einige denken, einfache Label beschreiben Menschen. Aber: Menschen sind viel komplizierter und komplexer als ein Label. Das sind dann nur Wahrnehmungen. Sie glauben, zu wissen, wer der andere ist. Das ist eine viel zu einfache Sicht von Menschen. Das trifft auch auf den Fußball zu. Ich habe so oft gehört, ich sei als Trainer einfach nur ein Fußballromantiker, der die ganze Zeit den Ball haben will. Nein. Es gibt viel mehr Farben bei Menschen, im Fußball, im Leben. Deshalb mag ich keine Labels.

Kasper Hjulmand und Jonas Hofmann
Copyright: Jörg Schüler/Bayer 04
Sie haben rund 25 Menschen in ihrer Kabine, die den Beruf als Fußballer ausüben. Was ist Ihr Ansatz, um sie bestmöglich zu entwickeln?
Zuerst muss man verstehen: Fußball ist ein Teamsport, Führung ist ein Teamsport, das Leben ist ein Teamsport. Um sich also persönlich bestmöglich zu entwickeln, braucht man einen guten Rahmen, ein familiäres Umfeld. Ich habe das auch bei meinen Kindern gemerkt: Je besser der Rahmen ist, in dem du lebst, desto größer ist die Chance, sich persönlich zu entwickeln. Wir versuchen also bei Bayer eine Atmosphäre zu schaffen, in der wir ein großes Gemeinschaftsgefühl haben, das jedem eine Grundlage für Wachstum verschafft. Wir geben einen Rahmen mit einer Fußballphilosophie vor, den jeder verinnerlichen soll, damit jeder weiß, was in seiner Rolle gefordert ist, um ein funktionierendes Fußballteam zu haben. Wenn das klappt, sieht auch jeder individuell besser aus. Manchmal sehen Spieler dann sogar besser aus, als sie eingeschätzt werden. Auch ich habe bei Spielern schon gedacht, dass ihr Limit viel eher erreicht ist und musste mir dann immer mal wieder sagen: ,Hey, wer weiß das schon? Vielleicht geht da auch noch mehr.„ Ich hatte mal einen 35 Jahre alten Spieler bei einem dänischen Klub, dem ich eine neue Rolle auf dem Platz gegeben habe. Er hat sich reingebissen und plötzlich spielte er mit 35 Jahren in der Nationalmannschaft. Man kann das ganze Leben lang dazulernen, aber man braucht einen Rahmen und ein Team. Ich versuche also Spielern zu helfen, in dem sie in einer funktionierenden Mannschaft spielen.
Was ist dabei noch wichtig?
Ich will jedem Spieler das Gefühl geben, dass er ein wichtiger Bestandteil des Teams ist. Auch denen, die nicht so viel spielen. Ich nenne sie versteckte Helden. Sie kriegen vielleicht nicht die Aufmerksamkeit, aber für mich sind sie sehr wichtig bei der Entwicklung einer Mannschaft. Wir haben in Janis (Blaswich) und Lombo (Niklas Lomb) zwei Torhüter, die nicht spielen können, weil Mark (Flekken) spielt. Aber die beiden sind unglaublich. Sie geben jeden Tag Vollgas, leben die Spiele auf der Bank mit. Das sind versteckte Helden. Es ist wichtig, dass jeder versteht, dass er seinen Anteil am Erfolg hat.
Wie schwer ist es, mit diesem Ansatz in einem Umfeld zu arbeiten, wo sehr schnell geurteilt wird und noch schneller Erfolge präsentiert werden müssen?
Es ist sehr schwierig heutzutage. Es wird sich immer mehr auf die Einzelnen konzentriert. Es gibt zahlreiche Auszeichnungen für einzelne Spieler, Trainer etc. Dabei kommt es so sehr darauf an, wie gut das Team funktioniert. Zudem wachsen unsere Kinder auch immer mehr mit einem egozentrischen Weltbild auf, verlieren immer mehr das Verständnis für und die Bedeutung von Gruppen und deren Kraft. Social Media spielt zum Beispiel eine große Rolle. Es ist so wichtig für das Leben, physischen Kontakt mit Menschen in einer Mannschaft oder einer Musikband, oder einer anderen Gruppe zu haben. Für mich ist es ein großes Thema, Verbindungen zu schaffen. Mit allen Beteiligten. Mit den Fans, mit allen Menschen, die in einem Klub wie diesem involviert sind. Wenn wir alle in dieselbe Richtung laufen, alle verstehen, dass wir das zusammen machen, dann haben wir eine gute Chance, sehr erfolgreich zu sein – als Gemeinschaft, aber auch individuell.
Ist in den aktuellen engen taktischen Konzepten der Trainer überhaupt noch Raum für individuelle Kreativität?
Wenn es richtig gemacht wird, wird sogar Raum für Kreativität geschaffen. Wir müssen aber in unseren Nachwuchsakademien sehr aufpassen. Ich habe viele Trainingseinheiten in Akademien gesehen, wo es mir vorkam, als würden die handelnden Personen ihren Job als Playstation für Erwachsene verstehen. Dann wird versucht, alles zu kontrollieren: wie die Spieler das Spiel sehen, wo sie sich entfalten können. Dribblern wird gesagt, ihr müsst mehr passen. Damit klauen wir Kreativität. Der Nachwuchs muss das Spiel durch das Spielen lernen und nicht durch klare Organisation und Vorgaben. Da müssen wir als Trainer und Eltern aufpassen. Auf höchstem Level ist es dann ein schmaler Grat. Ich liebe Spieler, die sich auf dem Platz ausleben, aber ohne Struktur geht es nicht. Dann ist es Chaos. Da muss eine Balance her, die nicht einfach zu finden ist. Aber ich liebe es, sie zu suchen und zu finden. Es ist wie Musik, es gibt einen Rahmen, aber darin gibt es viel Raum für Kreativität.
Mögen Sie das Fußballgeschäft?
Ich liebe Fußball. Es ist meine große Leidenschaft. Fußball hat so eine unglaubliche Kraft. Ich hatte das Glück, viel von der Welt zu sehen und sammle zum Beispiel Bilder von Fußballplätzen – auf Dachterrassen von großen Gebäuden bis zu kleinen Orten in Afrika. Es ist wirklich unglaublich, wie Fußball die Menschen verbindet. Es lehrt Kindern auf der ganzen Welt zu trainieren und dadurch besser zu werden, es lehrt gewinnen und verlieren, da zu sein für seine Teammitglieder, zusammen etwas zu erreichen. Von der Basis bis zur Spitze liebe ich dieses Spiel so sehr.
Und was mögen Sie nicht an dem Geschäft?
Fußball ist für die Menschen. Deshalb mag ich Fußball in Deutschland sehr, weil ich das Gefühl habe, dass man das hier ganz generell verstanden hat. Fußball ist nichts ohne die Fans, die Leidenschaft, die Verankerung in der Gesellschaft. Deshalb finde ich die Preise für die Tickets bei der WM 2026 nicht gut. Sie sind so hoch, dass sich nur wohlhabende Leute das leisten können. Eine WM sollte für alle Menschen sein, egal, wie viel sie verdienen. Es ist schon so viel Geld im Spitzenfußball. Damit könnte man noch viel mehr für die Basis und Kinder machen. Ich bin im Vorstand bei Common Goal, einer sozialen Initiative, die von Ex-Profi Juan Mata und Jürgen Griesbeck, einem deutschen Visionär, gegründet wurde. Jeder, der dabei ist, gibt ein Prozent seines Gehalts für Projekte im Breitenfußball ab. Zwei Millionen Kinder profitieren davon. Es muss noch viel mehr in dieser Hinsicht passieren. Die Verbindung vom kommerzialisierten Fußball zur Basis muss noch viel stärker werden. Bei der WM schauen fünf Milliarden Menschen zu, es wird so viel Geld gemacht. Da muss man doch mehr machen können für die nächsten Generationen. Fußball ist ein globales Phänomen, darin steckt noch so viel Potential.
Sie haben schon den Einfluss von Social Media auf den Nachwuchs erwähnt. Sie engagieren sich auch bei WeAre8, einer Plattform, die Social Media besser machen möchte – mit mehr Positivität, null Toleranz gegen Hate Speech. Was bedeutet das für Sie?
Ich hatte nie Facebook oder Instagram, weil ich viel über die Strukturen und die Algorithmen gelesen habe. Einige Entwickler von Facebook haben mittlerweile in den USA öffentlich zugegeben, dass die Plattform Einsamkeit und Hass fördert. Aber da es sich um ein kommerzielles Unternehmen handelt, das viel Geld einbringt, gibt es Facebook und die anderen Plattformen immer noch. Meistens verdienen daran nur ganz wenige Menschen, die steinreich werden. Ich glaube: Social Media ist großartig, wenn wir es richtig nutzen. Dann hat es Kraft, kann Positives bewirken. Wenn nicht, ist es sehr schädlich für die Gesellschaft. Oft wird es auch genutzt, um demokratische Strukturen anzugreifen. Dann habe ich Zoe (Kalar; Anm. d. Red.), die Gründerin von WeAre8, kennengelernt. Es ist eine unabhängige, europäische Firma. Es ist eine Plattform für die Menschen, denn das verdiente Geld geht direkt zurück an die Menschen. Die Nutzer können entscheiden, ob sie Werbung sehen wollen. Wenn ja, entscheiden sie, wohin das verdiente Geld geht. Zum Beispiel zu Unicef oder anderen Organisationen. Es gibt keine Algorithmen. Eine KI erkennt Hetze und Diskriminierung, löscht alles direkt. Das ist ein Produkt, das ich gerne unterstütze. Ich glaube, das ist die richtige Richtung für Social Media.
Raten Sie ihren Spielern auf die Nutzung der üblichen Social Media Plattformen zu verzichten?
Ich habe gesehen, was es mit Spielern anrichten kann. Die Kommentare sind oft schrecklich. In Leverkusen habe ich noch nicht mit den Spielern darüber geredet, in der dänischen Nationalmannschaft war es aber ein großes Thema. Es gab den Vorfall mit Christian Eriksen (Kollaps bei der EM 2021, Anm. d. Red.) und die Reise zur WM 2022 nach Katar. Es sind üble Dinge vorgefallen mit Social Media. Auch Topstars sind nur normale Menschen mit Gefühlen.
Sie sprechen den Vorfall mit Christian Eriksen beim EM-Spiel an. Wie hat das ihr Trainerdasein verändert?
Ich hatte davor schon mal einen Vorfall, als einer meiner Spieler bei einem Spiel von einem Blitz getroffen wurde. Er hat ein Bein verloren und war drei Monate im Koma. Ich kannte also so eine Extremsituation schon, als das mit Christian passiert ist, hatte aus dem ersten Vorfall schon viel gelernt und wusste, was als Krisenbewältigung vonnöten ist. Es war aber natürlich erneut traumatisch. Es hat alle, die dabei waren verändert, wir werden das auf ewig mit uns tragen. Der Vorfall passierte noch in der Coronazeit. Wir konnten also nicht aus unserer geschützten Bubble ausbrechen, konnten nicht zu unseren Familien, waren also zusammen in dieser Situation eingeschlossen. Wir haben viel geredet, es hat uns zusammengeschweißt.
Zum Abschluss eine etwas privatere Frage: Sie sind mit einer Ex-Politikerin aus Grönland zusammen. Sprechen sie an Weihnachten mehr über Fußball oder mehr über Politik?
(lacht) Wir sind beide sehr neugierig auf das Leben, auf viele Dinge. Wir sprechen über alles, schauen uns Kunst an, oder gehen in der Natur spazieren. Wir sehen die gleichen, wunderbaren Farben auf dieser Welt. Wir werden nicht über Fußball und ganz wenig über Politik reden.



