E-Sports-WM im Radsport„Virtueller Sport bietet Chancen für die Gleichberechtigung“

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Tanja Erath bei der Arbeit auf dem Smarttrainer in Köln-Deutz

Köln – Frau Erath, Sie treten am Mittwoch bei der ersten offiziellen E-Sport-Rad-WM für Deutschland an. Sind Sie aufgeregt?

Ziemlich. Das liegt nicht nur am sportlichen Wettbewerb. Bei virtuellen Rennen kann viel mehr schiefgehen. Ich muss die Technik im Griff haben und das WLAN muss halten. Normalerweise konzentriere ich mich nur auf die sportliche Leistung.

Die WM steigt auf Zwift, einer virtuellen Plattform für Sportler, deren Räder auf Rollentrainern stehen, welche wiederum mit dem Internet verbunden sind. Wo steht Ihr Rad?

Ich fahre in der Wohnung meines Freundes in Köln-Deutz. Hier halte ich mich momentan viel auf, auch wenn ich in Darmstadt noch eine Wohnung habe.

Sind Sie denn auf die WM-Strecke gut vorbereitet?

Ja, ich kenne die Strecke sehr gut und weiß, was wo kommt. Es geht über etwa 50 Kilometer durch »Watopia«. Alle, die schon einmal mit Zwift gefahren sind, kennen dieses Gelände. Es geht auf und ab, das ist ein Profil für Leute mit Punch.Es ist eine WM im virtuellen Raum, aber die Leistung wird in der echten Welt getreten.

Können Sie sicher sein, dass gleiche Bedingungen herrschen?

Grundsätzlich lässt sich das nie sagen. Aber der Aufwand der Veranstalter war groß, um es vergleichbar zu machen. Wir Athleten haben neue smarte Rollen bekommen, es gab ein Update für diese Geräte, technisch sind also alle auf demselben Stand.

E-Radsport-WM

Die WM in der virtuellen Radsportwelt von Zwift ist die erste offizielle E-Sports-WM im Radsport. Die Teilnehmer erbringen ihre Leistung auf Rollentrainern, die mit dem Internet verbunden sind. Die Rennen starten um 15 Uhr am Mittwoch. Eurosport 2 überträgt live.

Tanja Erath, 31, ist Rennradprofi beim Team Canyon/SRAM. Erath studierte in Bochum Medizin. (ksta)

24 Stunden vor dem Rennen müssen wir unser Gewicht angeben, und zwar mit einem Video. Hier müssen wir ein Test-Gewicht, uns selbst und uns mit dem Gewicht vor der Kamera wiegen. All das soll eine Manipulation der virtuellen Leistung unmöglich machen. Allerdings weiß man hier genauso wenig wie auf der Straße, ob jemand mit einem Motor im Rahmen nachhilft.

Und wie lautet Ihre Zielsetzung?

Ich hatte erst Ambitionen, kann das aber jetzt gar nicht einschätzen. Ich bin im September gestürzt, hatte am linken Bein einen Innen- und Kreuzbandriss und das Schienbein gebrochen. Die Vorbereitung auf die WM bestand vor allem aus Reha, im intensiven Training bin ich gerade mal seit fünf Wochen. Ich will hier keine zu hohen Ziele stecken. Ich bin froh, dass ich erst mal mit einer ordentlichen Form am Start stehe. Was dann passiert, wird auch von der Renntaktik abhängen.

Ist das taktische Verhalten bei virtuellen Rennen mit denen auf der Straße vergleichbar?

Absolut. Bei der Weltmeisterschaft werden die superleichten Kletterer alles geben, um Sprinter wie mich vor dem Ziel loszuwerden, weil es auf dem letzten Kilometer zwar 900 Meter bergauf geht, aber zum Ziel noch einmal flach wird. Teamwork in den Mannschaften spielt eine Rolle, wenn auch nicht ganz so sehr wie bei den virtuellen Rundfahrten, die wir dieses Jahr auch gefahren sind. Man hat Helfer, die Löcher zufahren, Ausreißergruppen – das ist genau wie auf der Straße. Mit den anderen Teilnehmerinnen vom BDR stimme ich mich vorher und während des Rennens über einen Gamer-Chat ab. Außerdem macht uns ein sportlicher Leiter im Rennen Ansagen.

Inwiefern hilft Ihnen die Rolle beim Aufbau der Form?

Ich kann mit dieser Technik extrem gezielt trainieren, beinahe unter Laborbedingungen. Ich kann meine Intervalle ohne Unterbrechungen durchziehen, ohne Ampeln, ohne Straßenverkehr. Wenn ich alles gebe, dann falle ich höchstens aufs Sofa und pralle nicht an der Kreuzung in einen Lastwagen.

Ihr Einstieg in den Profisport gelang Ihnen über virtuelle Rennen: Sie qualifizierten sich 2017 bei einem Wettbewerb für einen Vertrag beim Team Canyon-SRAM. Klingt nach einem Märchen …

Stimmt auch, aber ich bin nicht von jetzt auf gleich Leistungssportlerin geworden. Ich habe schon immer viel Sport gemacht, war Triathletin und habe in Köln meine erste Mitteldistanz gewonnen. Dann habe ich mich aber nicht ganz getraut, Profi-Triathletin zu werden.

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Tanja Erath

Da ist man selbstständig, muss die Lizenz selbst kaufen und Sponsoren sammeln. Ich habe mich erst mal auf mein Medizinstudium konzentriert und meine sportlichen Ambitionen aufgeschoben. Als es nach meinem Praktischen Jahr dann 2017 diese Chance auf einen Profivertrag gab, war das für mich der letzte Strohhalm.

Rennradfahren ist ein harter Sport und bei den Frauen auch meist schlechter bezahlt als eine Stelle als Ärztin …

Richtig, aber ich konnte mein Hobby zum Beruf machen und war ja aus dem Studium auch noch gewohnt, in einer WG zu wohnen und mit eher wenig Geld auszukommen. Fürs Arbeiten als Medizinerin habe ich später noch genug Zeit.

Indoor-Training und Rennen auf der Rolle haben in diesem Jahr wegen Corona einen Schub bekommen ...

Ja. Viele meiner Teamkolleginnen leben in Spanien und hatten einen echten Lockdown. Da habe ich aus Solidarität mit ihnen im Netz trainiert. Außerdem habe ich aber auch das Gefühl gehabt, dass für mich als ausgebildete Ärztin Training auf der Straße nicht in Ordnung war. Ich habe gedacht: Was ist, wenn ich stürze und die sich im Krankenhaus um mich kümmern müssen, obwohl es gerade ganz anderen Bedarf gibt? Da bin ich lieber drinnen geblieben und immer mehr dem Indoor-Training verfallen.

Es gab auch viele virtuelle Rennen dieses Jahr, die sogar auf Eurosport übertragen wurden. Glauben Sie, dass solche Rennen dauerhaft bestehen werden?

Der Markt wächst seit Jahren, es gibt Teams mit sehr guten Sponsoren. Aber dieses Jahr war schon extrem und es wird auch weitergehen. Gerade für den Frauenradsport gilt das. Hier bietet sich eine Plattform, auf der Frauen plötzlich genauso lange Rennen fahren und auch das gleiche Preisgeld bekommen wie die Männer.

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Das ist etwas anderes als bei den traditionellen Straßenrennen, wo man oft nur ein paar Minuten von uns im Fernsehen zeigt. Virtueller Sport bietet Chancen für die Gleichberechtigung.

Würden Sie bei der virtuellen WM auf YouTube zuschauen?

Absolut, ich schaue mir auch viele Rennen an. Die sind kurzweilig. Man hat die Fahrerinnen alle im Blick, da gibt es eine sehr übersichtliche Tabelle. Außerdem ist es wie bei Olympia: Da schauen wir doch auch urplötzlich Curling und bleiben kleben. Das gilt auch für den E-Radsport.

Bei der WM stehen mit Annemiek van Vleuten und Anna van der Breggen aus den Niederlanden die beiden dominierenden Radsportlerinnen im Aufgebot. Gibt es gegen die beiden ein Mittel?

Das kommt drauf an, ob sie sich mit Zwift auseinandergesetzt haben. Beide verfügen über eine enorme Physis. Aber die können sie nicht ausspielen, wenn sie sich mit den Begebenheiten in solch einer virtuellen Welt nicht auskennen. Die bisherigen Rennen haben gezeigt, dass selbst ehemalige Weltmeisterinnen beim E-Sport nicht immer zeigen, was sie auf der Straße draufhaben. Der Unterschied ist so groß wie zwischen Straßen- und Bahnradfahren.

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