Eddy Merckx im Interview„140 Kilometer, meine Güte, bist du verrückt?“

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Merckx (vorn, in gelb) bei der Tour 1971, die er später gewann.

  • Er kann sich seine Interviews aussuchen. Und in der Regel lautet die Antwort: nein. Für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ macht Eddy Merckx, der erfolgreichste Radsportler aller Zeiten, eine Ausnahme.
  • Auch heute setzt sich Merckx immer noch zwei bis drei Mal pro Woche aufs Rad: „Jeweils so um die 70 Kilometer, mehr nicht.“
  • Im Gespräch mit uns blickt er auf seine surreale Karriere und seine 140 Kilometer lange Solofahrt vor 50 Jahren zurück, die, wie er sagt, eher ein ungeplanter Zufall war.

Herr Merckx – wobei ist es eigentlich in Ordnung Sie mit Herr Merckx anzusprechen? Wäre Baron Merckx nicht korrekter?

Sagen Sie einfach Eddy. Baron, das ist eine Ehre, eine Auszeichnung, die mir König Albert II. im Jahre 1996 verliehen hat. Das ist schon ganz nett, eine schöne Erinnerung, aber es bedeutet mir nicht viel.

Wobei Eddy ja auch nicht immer richtig war. Eigentlich heißen Sie ja Édouard Louis Joseph Merckx. Wer hat Sie eigentlich wann zuletzt Édouard genannt?

Ja, so war es bei meiner Geburt, Édouard, aber ich habe den Namen auch in meinem Ausweis ändern lassen – in Eddy. Dass jemand mich zuletzt Édouard genannt hat, das muss jetzt fast 60 Jahre her sein. Wahrscheinlich waren es meine Eltern.

Und wie geht es Ihnen zurzeit?

Ich kann nicht klagen, sehr gut, würde ich sagen. Ich bin in toller Form, auch wenn ich im vergangenen September eine Operation an der Hüfte hatte, weil mir da eine Sehne gerissen war. Aber Radfahren klappt auf jeden Fall sehr gut. Gerade gestern bin ich noch gefahren, war zwar sehr windig, ging aber gut. Ich fahre zwei bis drei Mal pro Woche. Jeweils so um die 70 Kilometer, mehr nicht. Ich fahre mit alten Teamkollegen, das ist immer eine schöne Gelegenheit, sich zu treffen und Spaß zu haben.

Vor allem nachher, oder?

Das auch, klar. Da machen wir schon mal ein paar Bierchen auf.

Wie geht es Ihrem Herz? Schließlich wurde Ihnen schon 1968 ein „lebensbedrohlicher Herzfehler“ attestiert.

Nun ja, ich habe einen Schrittmacher, weil ich in der Tat Herzprobleme hatte. Die Herzschlagfrequenz ist immer mal wieder gesunken. Das passiert jetzt nicht mehr. Ich hatte nach meiner Karriere auch große Probleme mit dem Magen, ich habe da stark abgenommen. Inzwischen ist aber wieder alles gut.

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Merckx nach seinem Sieg beim Dortmunder Union Straßenrennen am 30. August 1970

Ihre Karriere ist, was die Erfolge und Siegesserien betrifft, die außergewöhnlichste, die je einem Radsportler gelungen ist. Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?

Mein Ziel war es, der beste Fahrer meiner Generation zu sein. Und das war ich. Das war mir wichtig. Der schönste Erfolg meiner Karriere war mein erster Tour-Sieg 1969. In jenem Jahr bin ich wirklich richtig gut gefahren, da ist mir alles zugefallen, da fiel es mir leicht, die Schwierigkeiten zu meistern. Das war die beste Phase meiner Karriere. Denn danach, noch im selben Jahr, hatte ich am 9. September einen fürchterlichen Sturz auf der Bahn von Blois in Frankreich. Danach war ich nicht mehr der Eddy Merckx, der ich vorher war. Ich hatte eine schwere Beckenverletzung, die sogar eine Verschiebung des Beckens zur Folge hatte. Ich war danach in den Bergen nicht mehr so stark wie zuvor.

Letztlich waren Sie aber mehr als das, was Sie sein wollten: Der beste Ihrer Generation. Sie sind eine Legende Ihres Sports …

… mir genügt es, als der beste Radsportler meiner Generation zu gelten. Es ist immer schwer, die Sportler aus verschiedenen Epochen zu vergleichen. In meiner Generation hatte ich es auch mit großen Champions zu tun, so ist es ja nicht. Und damals, zu meiner Zeit, sind die großen Fahrer alle Rennen gefahren und haben sich nicht nur auf einzelne Höhepunkte konzentriert, das ist ein Unterschied zur heutigen Zeit.

Vor 50 Jahren, 1969, sind Sie erstmals bei der Tour de France gestartet. Und dabei ist Ihnen etwas Außergewöhnliches gelungen. Auf der 17. Etappe, die über die Pyrenäen-Berge Peyresourde, Aspin, Tourmalet und Aubisque führte, sind Sie am Gipfel des Tourmalet gestartet – und zwar im Gelben Trikot – und haben sich auf eine 140 Kilometer lange Solofahrt begeben. Das Ziel erreichten Sie mit acht Minuten Vorsprung. Wie war das möglich?

Das war nicht geplant, das hat sich spontan ergeben. Das war Zufall. Ich habe den Tourmalet als Erster aus einer Gruppe der Favoriten heraus überquert. Ich wollte meinem Teammitglied Martin van den Bossche, von dem ich am Vorabend herausgefunden habe, dass er unsere Mannschaft verlassen wollte, eine Lektion erteilen. Also habe ich ihn überholt, um ihm mal zu zeigen, wer hier der Boss ist. Aber plötzlich war ich in der Abfahrt ganz allein vorne. Ich habe mich gefragt: Was soll ich jetzt machen? Na gut, habe ich gedacht, mache ich weiter. Ich bin aber nicht Anschlag gefahren, denn es war ja noch eine lange Strecke zu absolvieren, 140 Kilometer. Aber mehr und mehr habe ich begriffen, dass ich nun einen immer größeren Vorsprung herausfuhr, und dann habe ich es auch durchgezogen. Aber währenddessen habe ich schon gedacht: 140 Kilometer, meine Güte, bist du verrückt? Im Ziel haben mir die Beine gebrannt.

Bei der Tour 1969 haben Sie Maßstäbe gesetzt: Gesamtsieg, sechs Etappen gewonnen, dazu noch das Grüne Trikot für punktbesten Fahrer, das Bergtrikot und die Teamwertung. Was war da los?

Ich war Teil eines tollen Teams. Ich habe auch mit fast 18 Minuten Vorsprung gewonnen, das ist kaum noch machbar heute. Radsport war für mich keine Rechenaufgabe, bei der es darum ging, den Vorsprung zu verwalten.

Vor 50 Jahren haben Sie auch zum ersten Mal das Gelbe Trikot getragen. Weil es vor 100 Jahren erstmals verliehen wurde, steht es im Mittelpunkt dieser Tour – und Sie als Botschafter gleich mit, zumal die Tour zu Ihren Ehren in ihrer Heimatstadt Brüssel startet. Am Donnerstag bei der Teampräsentation wurden Sie zudem auf der Bühne frenetisch gefeiert. Wie nehmen Sie das alles auf?

Ein Geschenk ist das nicht. Das ist mit viel Stress für mich verbunden, weil ich plötzlich wieder im Mittelpunkt stehe, das ist nicht immer leicht. Aber klar: Ich bin schon stolz darauf.

111 Mal haben Sie das Gelbe Trikot erhalten, das Sie an 97 Tagen getragen haben – damals gab es bisweilen noch Halb- und Dritteletappen an einem Tag. Was bedeutet Ihnen dieser gelbe Stoff?

Das ist ein Trikot, das ich wirklich liebe. Es ist ein Symbol, ein Mythos, für mich steht es für Erschöpfung und Leiden, aber auch für Siege und Glück. Das hängt alles zusammen.

Ihr erstes Gelbes Trikot haben Sie in Woluwe-Saint-Pierre erobert, also der Kleinstadt bei Brüssel, in der Sie aufgewachsen sind. Das klingt unglaublich.

Das war ein großer Zufall. Sowohl die Sache mit Woluwe als auch das Gelbe Trikot. Es handelte sich um die zweite Etappe, ein Team-Zeitfahren. Den Prolog hatte am Vortag der Deutsche Rudi Altig vor mir gewonnen. Meine Faema-Mannschaft hat dann das Team-Zeitfahren für sich entschieden, dafür gab es damals noch mal eine Zeit-Bonifikation, für Altigs Team nicht, nur deshalb konnte ich das Gelbe Trikot übernehmen. Dass es in Woluwe passierte, ist Schicksal. Warum die Tour an diesem Tag in Woluwe Station machte, weiß ich auch nicht. Unglaublich ist es allemal. Die Zuschauer waren natürlich begeistert. Ich auch.

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Eddy Merckx bei der Team-Präsentation der Tour de France in Brüssel

Haben Sie eine Erklärung, warum Sie damals so viel besser waren als all die anderen Fahrer?

Ich denke, in erster Linie muss ich mich bei meinen Eltern für das Talent bedanken, das Sie mir mitgegeben haben. Und außerdem habe ich wirklich viel und hart gearbeitet. Talent allein genügt aber nicht. Wenn du den Gipfel erreichen und vor allem dort bleiben willst, dann musst du mehr tun als alle anderen.

Bald kam das Wort Kannibale auf, um Ihre Überlegenheit zu illustrieren, weil Sie nie Kompromisse eingegangen sind und Ihren Gegnern kaum etwas übrig gelassen haben. Kannibale klingt heutzutage komisch, war es das damals auch?

Das stört mich nicht. Das lässt mich kalt.

Und dann, im Frühjahr 1978, haben Sie gemerkt, dass es vorbei ist. Während eines Rennens.

Es war genug. Zu viel. Es gab auch noch ein Problem mit dem Sponsor. Psychisch und physisch betrachtet war es vorbei. Vor allem mental war ich müde und ausgelaugt. Wenn der Kopf nicht mehr mitspielt, wird es schwer.

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Wie ging es nach Ihrer Karriere weiter in Ihrem Leben?

Ich habe es mit Tennis versucht, ich habe zudem Fußball mit den Veteranen des RSC Anderlecht gespielt. Rad gefahren bin ich auch – aber deutlich anders als zuvor. Und dann habe ich meine Fabrik gegründet, 1980, Eddy Merckx Cycles, wir haben Fahrräder hergestellt. Wir hatten bis zu 42 Mitarbeiter hier in Meise. 2008 habe ich meine Anteile an der Firma verkauft.

Die Belgier werden stets an Sie erinnert. Sie sind Belgiens Sportler des Jahrhunderts, es gibt hier eine Briefmarke mit Ihrem Konterfei, Sie wurden in den Adelsstand erhoben, in Brüssel gibt es eine nach Ihnen benannte Metro-Station …

… und an der Côte de Stockeu bei Stavelot in Belgien haben Sie mir ein Denkmal gebaut. Dort führt die Strecke von bei Lüttich-Bastogne-Lüttich vorbei. 

Was bedeutet Ihnen das alles?

Das ist eine große Freude, muss ich sagen. Ich bin stolz darauf. Aber ich brauche das nicht für mein Ego, allen Menschen erzählen zu können, dass es ein Denkmal von mir gibt. 

Und auch in dem Band: „Asterix bei den Belgiern“ werden Sie erwähnt. Wussten Sie das?

Bei Asterix?

Ja Band 24, Seite 39. Sie sind als Eilbote dargestellt. Da schauen Sie mal.

Ah ja. Mit Gelbem Trikot. Das ist ja lustig. Gefällt mir sehr.

Wer wird diese Tour gewinnen?

Ich hätte auf den Briten Chris Froome getippt. Aber nun ist er verletzt. Jetzt wird es spannend. Doch auch ohne Froome ist dessen Ineos-Mannschaft mit Vorjahressieger Geraint Thomas und mit dem jungen Egan Bernal sehr stark besetzt. Für den Rest wird es schwer. 

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