Eine beeindruckende ZDF-Doku zeigt, wie Täterstrategien funktionieren und wie hilflos sich die Opfer fühlen.
Missbrauch in der LeichtathletikSpitzensportlerinnen brechen das Schweigen

Teilnehmerinnen sitzen vor dem Start über 100-Meter-Hürden im Startblock. (Symbolbild)
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Verdrängen, Verstecken, Verschweigen – dass Missbrauchstäter oft ungestraft davonkommen, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Opfer unerkannt bleiben wollen. Aus Scham, aus Verletzung oder – wie im Sport – aus Sorge um die eigene Karriere. Es gehört zur sinistren Macht der Täter, dass sie es sind, die darüber zu bestimmen haben.
Demgegenüber zeigt die ZDF-Doku „Gold, Silber, Machtmissbrauch – die dunkle Seite der Leichtathletik“, wie befreiend es sein kann, wenn der Schleier fällt und Betroffene den Weg ins Licht wagen. Der Ausstrahlungstermin an diesem Dienstag ist nicht zufällig gewählt: Am Samstag beginnt in Tokio die Leichtathletik-WM, das Top-Ereignis des Jahres. Dort startet auch die deutsche Meisterin über 400 Meter Hürden, Eileen Demes.
Opfer reden Klartext
Dem Autoren-Duo Christina Zühlke und Michael Hasenrieder ist es in zehnmonatigen Recherchen gelungen, Spitzenathletinnen wie Demes oder Jessica-Bianca Wessolly (Europameisterin mit der 4x100-Meter-Staffel) mit ihren Erfahrungsberichten vor die Kamera zu holen. „Sechs Monate habe ich immer nur Gerüchte zu hören bekommen. Erst dann haben die ersten Athletinnen den Mut gefasst, sich als Betroffene zu outen“, sagt Zühlke im Gespräch.
In ihrer Doku treten auch Sportlerinnen und Sportler auf, die zu ihrem Schutz anonym bleiben, in ihren Erfahrungsberichten aber Klartext reden und Beweise liefern für übergriffiges Verhalten und sexuelle Belästigung. „Mich interessiert, wie du beim Sex abgehst“, schreibt der Trainer einer von ihm betreuten Athletin im nächtlichen Chat und schlägt der 16-Jährigen vor, sie solle ihm doch mal ein Video von sich und ihrem Freund schicken.
Übereinstimmend schildern die Opfer ein Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins. „Wenn ich mitmache“, sagt eine junge Frau, „gehen die Situationen schneller vorbei.“ Und das Schweigen? „Ich hatte ein Ziel. Ich wollte an die Weltspitze, und ich wusste nicht, dass das der Preis ist.“
Frappierende Parallelen
Co-Autorin Zühlke, die sich durch ihre WDR-Recherchen zum Missbrauch in der katholischen Kirche einen Namen gemacht hat, spricht von frappierenden Parallelen. „Täterstrategien und Vertuschung durch die Institutionen gleichen einander. Die Kirche hat ihre Pfarrer versetzt, im Sport sind die Trainer in den nächsten Verein gewechselt – sehr oft zulasten weiterer Opfer.“
Konfrontiert mit den Vorwürfen, handelten die Verantwortlichen teils auf dem Fuße. Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) und der Landesverband Niedersachsen zogen bei einem Trainer im Licht der Recherche Konsequenzen – mit einem Verfahren zum Entzug der Lizenz und einer Strafanzeige.
Sport-Unternehmer Dethloff fordert Umdenken
Der Ex-Hammerwerfer Claus Dethloff, der als Unternehmer mit seinem Projekt „Germany Athletics“ eine eigene Vereinsstruktur aufbaut, erklärt im Interview, dass er sich von einem bei ihm beschäftigten Trainer getrennt habe, nachdem das Fernsehteam ihn mit Eileen Demes‘ Aussagen über den Mann konfrontiert hatte. In anderen Fällen sind die Reaktionen schleppender oder erweisen sich als schwierig – zumal dann, wenn die Beschuldigten alles abstreiten und damit Aussage gegen Aussage steht.
Einige – wenige – Opfer kommen in der TV-Doku zu Wort, gehen mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit. Doch wie groß ist das Problem dahinter? 7700 Leichtathletik-Vereine mit 800.000 Mitgliedern gibt es in Deutschland. Das lässt die Dimension des Dunkelfelds erahnen. „Wegschauen, Vertuschung – das machen wir seit Jahrzehnten.“ Dessen ist sich Claus Dethloff sicher und fordert ein Umdenken.
Auch Olympiasiegerin Heike Henkel war in „kritischer Situation“
Die Hochsprung-Olympiasiegerin von 1992, Heike Henkel, berichtet, dass auch sie in eine „kritische Situation“ geraten sei – aber nur ein einziges Mal: Nachdem ein Physiotherapeut sie an der Brust berührt und sie sich darüber beschwert habe, sei der Mann sofort gegen eine weibliche Betreuerin ausgetauscht worden. „Offen sprechen“, das Thema Missbrauch „aus der Tabuzone holen“, lautet Henkels Empfehlung.
Aber lässt ihre – vergleichsweise positive – Erfahrung den Schluss zu, dass der übergriffige Betreuer nach ihrer Beschwerde dann auch andernorts nicht mehr zum Einsatz kam?
„Massive Schutzlücken“ beklagt die Missbrauchsbeauftragte des Bundes, Kerstin Claus. Tätern sei, wenn sie auffällig würden, sehr leicht ein Wechsel zwischen verschiedenen Verbänden möglich: Oftmals ziehen sie einfach weiter. Von „Trainerhopping“ spricht Claus und fordert härtere Durchgriffsmöglichkeiten. Säumigen Vereinen und Verbänden müsse mit der Kürzung von Mitteln gedroht werden.
TV-Autorin Zühlke: Präventionsarbeit ist ein uneingelöstes Versprechen
„In der Kirche melden sich oft Betroffene, bei denen der Missbrauch sehr lange zurückliegt“, berichtet Zühlke. „In der Leichtathletik habe ich mit jungen, noch aktiven Sportlerinnen gesprochen. Aber auch sie hatten schon eine ganze Zeit geschwiegen. Dass sie sich heute immer nicht trauen, sofort aufzuschreien, ist erschreckend. Und es zeigt: Präventionsarbeit ist bis heute ein uneingelöstes Versprechen.“
Der DLV verweist auf eigene Schutzprogramme und einen Ehrenkodex, räumt aber ein, dass die Weitergabe von Informationen über Täterverhalten unterhalb der strafrechtlichen Grenze tatsächlich schwierig sei. Immerhin arbeite man daran, einen Entzug der Trainer-Lizenz für andere Verbände einsehbar zu machen.
Die Doku endet mit Demes‘ Erfolgen beim Internationalen Leichtathletik-Wettbewerb Istaf in Berlin und den „Finals 2025“ in Dresden mit der Verteidigung ihres Meistertitels. Dass sie auch die Mitwirkung an der Doku als persönlichen Sieg und als Akt der Befreiung wertet, ist ihr anzumerken. Mitfreude ist hier ebenso angebracht wie bei den sportlichen Höchstleistungen.
„Gold, Silber, Machtmissbrauch – die dunkle Seite der Leichtathletik“, am Dienstag, 9. September, um 21 Uhr in „frontal“ (ZDF).
Die gesamte Doku (45 Minuten) ist in der ZDF-Mediathek abrufbar.