„Eine Grenze wurde überschritten“Schiedsrichter Sascha Stegemann spricht über Morddrohungen

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Schiedsrichter Sascha Stegemann, von Dortmunder Spielern bedrängt.

Schiedsrichter Sascha Stegemann, von Dortmunder Spielern bedrängt.

Nach seinem Fehler im Spiel Bochum gegen Dortmund wurde der Schiedsrichter aus Niederkassel angefeindet. Er lobt die Borussia für ihre Deeskalation.

Bundesliga-Schiedsrichter Sascha Stegemann aus Niederkassel traf am 28. April eine folgenschwere Fehlentscheidung. In der 65. Minute des Spiels VfL Bochum gegen Borussia Dortmund foult der Bochumer Danilo Soares den Dortmunder Karim Adeyemi beim Stand von 1:1 im Strafraum. Der Unparteiische aus Niederkassel entschied: kein Foul. Er sah sich die Szene nicht mehr auf dem Bildschirm an. Die Bilder hätten ihm seinen Irrtum gezeigt. Das Spiel endete 1:1. Die Aufregung war groß. Stegemann sah seinen Irrtum nach dem Spiel noch im Stadion und entschuldigte sich unter anderem mit einem Auftritt im Sport1-Doppelpass zwei Tage später. Er und seine Familie erhielten dennoch Morddrohungen. Wir sprachen mit dem Schiedsrichter, der danach noch zweimal in der Zweiten Liga und als Videoassistent eingesetzt wurde. Hier Teil 1 des Interviews:

Herr Stegemann, wie geht es ihnen rund zwei Monate nach Ihrer Fehlentscheidung?

Es geht mir gut, ich war mit meiner Familie in Urlaub und konnte Abstand gewinnen. Momentan bereite ich mich auf die kommende Saison vor.

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Sie sind im Anschluss an das Spiel vor einem Millionenpublikum sehr offensiv mit ihrem Fehler umgegangen. Warum haben Sie das getan? Was wäre denn die Alternative gewesen?

Die Alternative wäre gewesen, sich zu verstecken und es auszusitzen. Ich bin aber dafür, zu seinen Fehlern zu stehen und zu versuchen, sie auch zu erklären. Es geht dabei nicht um eine Rechtfertigung, sondern darum die Dinge, die auf dem Spielfeld passiert sind, transparent zu machen. Damit die Leute wenigstens die Chance haben, die Gründe, die in diesem Moment auf dem Platz zu dieser Entscheidung geführt haben, nachzuvollziehen.

Heftige Kritik aus den sozialen Netzwerken

Danach wurden Sie vor allem in den sozialen Medien heftig attackiert und haben Morddrohungen erhalten. Wie haben Sie das persönlich erlebt und welche Folgen hatte das für Sie und Ihre Familie?

Das war schon ein befremdliches Gefühl, wenn man sich zum ersten Mal in seinem Leben mit Morddrohungen konfrontiert sieht. Das geht über die fachliche Kritik hinaus. Und wenn dann Unschuldige wie meine Familie mit hineingezogen werden, ist eine Grenze überschritten. Deshalb habe ich auch Strafanzeige gestellt. Allerdings muss ich sagen, dass durch die Reaktion von Borussia Dortmund, in der sich der Verein am Tag danach von den Bedrohungen distanzierte und zur Mäßigung aufrief, eine Deeskalation erfolgte. Danach habe ich keine direkten Bedrohungen mehr erhalten.

Die Lehre aus Ihrem Fall könnte sein: Bei einer strittigen Aktion lieber einmal mehr am Bildschirm nachschauen oder beim VAR nachfragen.

Ja, klar, aber es ist natürlich ein schmaler Grat. Wenn die Schiedsrichter nicht rausgehen, heißt es: Warum hast du es nicht wenigstens noch einmal angeschaut? Wenn sie auf der anderen Seite aber zu oft rausgehen, sind auch alle genervt. Aber wenn ganz viel auf dem Spiel steht, muss man sich trotz des Zeitdrucks noch detaillierter mit den Schlüsselszenen auseinandersetzen, die eigene Bewertung im Team kritischer hinterfragen. Welcher Spieler macht was? Haben wir wirklich an alles gedacht oder unter Umständen Dinge ausgeblendet? Und im Zweifel dann auch lieber einmal mehr nach draußen gehen als einmal zu wenig.

Große Sorgen macht mir der Amateurbereich. Diese Gewalt ist real

Ihr Fall war ein Extrem inmitten einer allgegenwärtigen Schiedsrichterdiskussion, die nach jedem Spieltag geführt wird. Dauerempörung scheint Teil der neuen Fußball-Kultur geworden zu sein.

Große Sorgen macht mir hier eher der Amateurbereich. Da vergeht kaum ein Wochenende, ohne dass Gewalt gegen Schiedsrichter ein Thema ist. Wir haben ohnehin mit Schiedsrichter-Gewinnung und Schiedsrichter-Erhaltung große Probleme. In den letzten Jahren hat sich die Zahl der aktiven Schiedsrichter von 80.000 auf 40.000 halbiert. Und wenn der Trend anhält, werden im Amateursport die Mehrheit der Spiele nicht mehr mit neutralen Schiedsrichtern besetzt werden können. Dann ist die Frage, inwieweit Fußball überhaupt noch möglich ist.

Konfrontation mit der Form des Hasses in einer anderen Dimension

Sie haben selbst lange Zeit im Amateurfußball Spiele geleitet.

Ich bin Gott sei Dank im Amateurbereich nie Opfer von tätlichen Angriffen geworden. Das wird aber deutlich präsenter. Man hört bei Amateurspielen natürlich jedes Wort. Der Umgangston dort hat sich nicht zum Positiven verändert. Und es fehlt physische Distanz. In einem Bundesliga-Stadion sind Ordner, da gibt es Barrieren. Aber im Amateurfußball ist ein Zuschauer schon mal schnell über ein Geländer gesprungen, da begegnet man sich auf dem Weg in die Kabine. Es ist alles sehr nah. Das ist im Profi-Bereich anders.

Dafür spielt sich Ihr Fehler vor den Augen eines Millionenpublikums ab, der Hass entlädt sich nach dem Spiel in den sozialen Netzwerken.

Damit werden wir heute konfrontiert, mit dieser Form des Hasses. Ich selbst lese das nicht, weil ich in sozialen Netzwerken nicht unterwegs bin. Für mich ist es aber eine andere Dimension. Ob jemand etwas im Internet über mich schreibt, von dem ich keine Kenntnis bekomme. Oder ob mir jemand mit der Faust ins Gesicht schlägt, wie im Amateursport. Diese Gewalt ist real. Und sie macht mir Sorgen.

Lesen Sie hier Teil 2 des Interviews mit Schiedsrichter Sascha Stegemann.

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