VierschanzentourneeWas Wellinger und Kobayashi unterscheidet

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Duell dieser Tournee: Ryoyu Kobayashi (vorn) aus Japan gegen den Bayern Andreas Wellinger.

Duell dieser Tournee: Ryoyu Kobayashi (vorn) aus Japan gegen den Bayern Andreas Wellinger.

Ein Deutscher und ein Japaner duellieren sich um den Tournee-Sieg. Wir vergleichen die beiden Springer.

Ein vermeintlich gewohntes Bild des Misslingens hinterließen die deutschen Skispringer am Dienstag auf der für sie so neuralgischen dritten Station der Vierschanzentournee am Bergisel zu Innsbruck. Keiner von ihnen schaffte es am Dienstag unter die besten Zehn der Qualifikation, Andreas Wellinger erreichte immerhin Position 15. Doch so einfach wie es scheint, liegen die Dinge nicht. Wellinger und kurz vor ihm Karl Geiger (33.) und Pius Paschke (35.) hatten üblen, ihre Leistungen schmälernden Wind zu verkraften, der sie weit nach hinten im Klassement wehte. In Bezug auf die Gesamtwertung der 72. Vierschanzentournee ist ohnehin nichts passiert.

Am Dienstag ging es nur um die Startplatzberechtigung für den Wettkampf am Mittwoch. Zu sehen gibt es dann Teil drei des faszinierenden Duells um den Gesamtsieg zwischen Wellinger und dem Japaner Ryoyu Kobayashi. Wellinger führt zur Tourneehalbzeit mit 1,8 Punkten Vorsprung auf Kobayashi, das entspricht einem Weitenmeter. Ein Leistungsvergleich. Erste Eindrücke von Innsbruck Ryoyu Kobayashi hatte in der Qualifikation am Bergisel eine ruhigere Windphase als Wellinger erwischt, sein stabiles Flugsystem ließ ihn auf Rang drei segeln.

Andreas Wellinger hebt nach dem Schanzentisch ab und fliegt auf der Bergisel-Schanze Innsbruck entgegen.

Andreas Wellinger hebt nach dem Schanzentisch ab und fliegt auf der Bergisel-Schanze Innsbruck entgegen.

Wellinger ist zwölf Plätze dahinter in der Ergebnisliste zu finden, aber dieser Vergleich hinkt wegen deutlich unterschiedlicher äußerer Bedingungen, die es Wellinger schwerer machten, einen weiten Sprung zeigen zu können. Allerdings deuteten beide Springer im Training an, dass ihnen die Anlage liegt. Kobayashi gelang im ersten Übungssprung die zweitgrößte Weite, Wellinger hatte ihn ausgelassen. Im zweiten Satz war Wellinger Drittbester, während wiederum Kobayashi nicht antrat. Bei vergleichbaren Bedingungen sprangen beide Athleten in etwa identisch.

1) Talent

Von der sportmotorischen Begabung her sei Andreas Wellinger der Skispringer, der ihn am meisten beeindruckt habe, sagt Werner Schuster, der von 2008 bis 2019 Bundestrainer der Skispringer war. In dieser Phase formte er Andreas Wellinger zu einem Weltklasseathleten. Was Wellinger gerade jetzt auszeichne, sei die innere Ruhe, die er ausstrahle, seine Reife, die ihm nach seinem Kreuzbandriss 2019 zugefallen sei. Denn Wellingers Weg zurück nach vorn war langwierig und von vielen Rückschlägen geprägt, die er erst jetzt überwunden hat. Kobayashi wiederum zeichnet laut Schuster eine grundsätzliche Stabilität und Leichtigkeit aus, er lächele viel, weil er sich wohlfühle. „Die Art und Weise wie er springt und fliegt hat etwas Spielerisches und Leichtes. Man kann daraus schließen, dass er viel Talent für diesen Sport mitbringt“, sagt Schuster.

2) Sprungphilosophie

Für Schuster sind in diesem Bereich keine großen Unterschiede zwischen Wellinger und Kobayashi feststellbar. Was beide Springer laut Schuster auszeichnet, ist ihre Fähigkeit, die beiden wichtigsten Komponenten des Skispringens zu beherrschen: „Sie sind in der Horizontalen, also beim Anlauf und der Anfahrtgeschwindigkeit, genauso überragend wie in Bezug auf den vertikalen Hub, also den Absprung und den Übergang in den Flug. Diese beiden Dinge beherrschen Wellinger und Kobayashi in meinen Augen derzeit von allen Springern am besten.“ Das sei auch der Grund dafür, dass das System der beiden auf allen denkbaren Schanzen funktioniere.

3) Absprung

Bei Kobayashi wirkt diese entscheidende Phase eines Skisprungs bisweilen wie ein Durchrauschen über den Schanzentisch. Kein großer Krafteinsatz sei dabei zu erkennen, erzählt Schuster, „aber dennoch ist er in diesem Teil des Sprungs aggressiver als Andreas Wellinger“. Hinzu komme eine „wahnsinnig schnelle Skiaufnahme, weshalb Kobayashi sehr rasch seine optimale Flugposition findet – und sie auch hält.“ Wellinger wiederum setze mehr auf die vertikale Komponenten: hohe Anlaufgeschwindigkeit „und danach kommt zum Tragen, dass er einen der stärksten Absprünge in der Weltelite besitzt.“ Daraufhin gewinnt er die Höhe, die er für weite Flüge benötigt.

Ryoyu Kobayashi schaut vom Sprungtrum der Bergisel-Schanze aus ins Tal.

Ryoyu Kobayashi schaut vom Sprungtrum der Bergisel-Schanze aus ins Tal.

4) Persönlichkeit

Da besitze Kobayashi grundsätzlich einen Vorteil gegenüber allen deutschsprachigen Konkurrenten, glaubt Schuster. Der Japaner könne sich hinter einer Maske verstecken, ähnlich wie einst der Finne Janne Ahonen. Kobayashi antwortet gemeinhin sehr kurz, Nachfragen sind wegen der langen Übersetzungsphase kaum möglich – „manchmal entsteht der Eindruck, er erlaube sich einen Spaß bei seinen Antworten“, die in der Tat bisweilen absurd anmuten. Das koste auf jeden Fall sehr viel weniger Energie als die aufwändigen Frage- und Antwortrunden, denen Wellinger in den Tourneetagen ausgesetzt ist. Allerdings imponiert es Schuster, „wie gereift und gelassen der Andi Wellinger mit dem Druck umgeht. Das zeugt von großer mentaler Stärke.“ Für Schuster vermittelt Wellinger derzeit den Eindruck, dass er sich „darüber freut, dass er nach seinem Kreuzbandriss einfach nur glücklich ist, eine solche Chance noch einmal zu bekommen. So nach dem Motto: Ich habe so viel durchgemacht, das hier macht mir jetzt gar nichts aus.“

Fazit

Schuster sieht eine Pattsituation in der Auseinandersetzung zwischen Reife (Wellinger) und Leichtigkeit (Kobayahsi), genauso wie es die Gesamtwertung derzeit ausdrückt. Allerdings spreche die Erfahrung von zwei Tournee-Gesamtsiegen 2019 und 2022 durchaus für Kobayashi, zumal er bei seinem ersten Triumph bei der Reise über die vier Schanzen alle Wettkämpfe für sich entscheiden konnte. Doch Schuster geht grundsätzlich davon aus, „dass am Bergisel noch keine Vorentscheidung fällt“. Einschränkung: Wenn die Verhältnisse fair für alle sind. Die Anlage in Bischofshofen, Ort des Tournee-Finales am 6. Januar, komme wiederum beiden Athleten sehr entgegen.

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