Überfordert, stur, unsouveränNeue Doku kommt zu ungünstigem Zeitpunkt für Bundestrainer Flick

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Bundestrainer Hans-Dieter Flick an der Seitenlinie während des letzten Spiels der Nationalmannschaft gegen Costa Rica.

Bundestrainer Hans-Dieter Flick an der Seitenlinie während des letzten Spiels der Nationalmannschaft gegen Costa Rica. (Archivbild)

Der Bundestrainer wird aktuell viel kritisiert. Die neue Amazon-Doku „All or Nothing“ wird Hansi Flick sicherlich nicht dabei helfen. 

Selten ist zu erleben, dass stumme Bilder so laut sprechen. Vor der Gruppe steht Hansi Flick, der Bundestrainer, der Chef de Mission, der qua Amt Autorität ausstrahlen sollte und die Kraft für Impulse, die in die richtige Tat münden. Flick aber steht in einer Art Hörsaal vor seinen Spielern, die in Stuhlreihen vor ihm gruppiert sind, und wirkt vor allem nicht souverän, aufgeregt, unsicher. Es geht um die Aufbereitung des Japan-Spiels, des 1:2 zum deutschen WM-Auftakt in Katar, das zweite Gegentor soll analysiert werden.

Flick sagt kurz zuvor in einem anderen Setting, dass er die Diskussion mit den Spielern liebe. Schnitt. Blick zurück in den Besprechungsraum. Flick fragt: „Eure Meinung?“ Ruhe. Beklemmende zehn Sekunden ist nichts von den Spielern zu hören. Flick spricht Nils Schlotterbeck an, der das 1:2 verschuldet hat: „Schlotti?“. Keine Antwort. Dann löst, wer sonst, Thomas Müller die Situation auf: „Das ist eine Philosophiefrage.“

Wir sind im Quartier der DFB-Auswahl in Katar, ein abgeschotteter Komplex in der Wüste, über eine Autostunde vom Zentrum der WM entfernt. In diesem Camp fehlt es an nichts, Luxus, Pools, Schatten-Oasen. Der DFB hat diese Art der intimen Einblicke für eine Dokumentation gestattet, die ab diesem Freitag (8. August) auf Amazon Prime zu sehen ist, Titel: „All or nothing. Die Nationalmannschaft in Katar“. Vier Teile sind es geworden. Eigentlich waren sechs Episoden geplant. Doch vier reichten schon, die WM-Reise mündete ja im Nothing, Aus in der Vorrunde, schon wieder.

Erscheinungstag der Doku ist ein unpassender Termin für Hansi Flick

Und genau da wird es problematisch für den DFB, für die Idee zu diesem Film, für Flick. Der Ausstrahlungsbeginn am 8. September, dem Tag vor dem nächsten Länderspiel gegen – auch das noch – Japan am Samstag in Wolfsburg, ist maximal unpassend für den Bundestrainer. Denn der steht dabei nach dem vor allem ja von ihm zu verantwortenden WM-Debakel im Mittelpunkt: Schafft er die Wende? Kann er sich so ändern, dass er diese Generation von Spielern, von jungen, mit digitalen Endgeräten aufgewachsenen Männern auf einmal besser erreicht als in Katar?

Die Partien danach waren ja fast noch schlimmer: fünf Länderspiele, drei in ihrer Entstehung erschreckende Niederlagen, ein Remis. Flick, der weiterhin kaum eine Klippe umschiffende Kapitän, rammte mit seinen Test-Ideen ein Jahr vor der Heim-EM weiterhin jeden Stein, sodass sein Schiffchen Lecks an nahezu allen Planken aufweist.

Wer Gründe dafür sucht, wird in der Doku reich bedient. Flick dürfte das gar nicht gefallen, er wirkt in Katar zunehmend besserwisserisch, verzweifelt, schlecht gelaunt und handlungsschwach. Und der DFB steht da als ein Verband, der seinen Top-Angestellten vor allem nicht schützt. Klar, die Verträge mit Amazon wurden weit vor der WM unterzeichnet, doch offenbar war den Zustimmern nicht bewusst, dass sie ein hohes Risiko eingehen für den auch damals nicht unwahrscheinlichen Fall des Scheiterns.

Amazon-Doku: Nationalspieler wundern sich, warum sich niemand in Deutschland für sie interessiert

Die Menschenrechtsfrage, die One-Love-Binde, leidige Themen, die heute, in der Rückschau, fast vergessen wirken, waren damals heißer Stoff. Und der DFB hat sich daran verbrüht und verhoben, er war in Person des Präsidenten Neuendorf, des Direktors Bierhoff und des Bundestrainers Flick nicht in der Lage, das Thema runterzukühlen und zu beenden. Das Lavieren, ein schulmeisterliches Briefing der Presseabteilung für Flick vor den Pressekonferenzen, die Last, die das Ganze annimmt, das Zaudern, das Zerbrechen an dem Druck der Gegenwart – all das ist auf bedrückende Art in der Person Hansi Flicks zu spüren und sehen. Und zudem sich wundernde Nationalspieler, die sich fragen, warum sich gerade offenbar niemand in Deutschland für Fußball interessiert.

Eine Szene, die das Scheitern der DFB-Elf bei der WM 2022 einleitete: Asano Takuma jubelt nach seinem entscheidenden Treffer zur 1:2-Niederlage für Deutschland.

Eine Szene, die das Scheitern der DFB-Elf bei der WM 2022 einleitete: Asano Takuma jubelt nach seinem entscheidenden Treffer zur 1:2-Niederlage für Deutschland. (Archivbild)

Für den Boulevard ganz nett sind die Auseinandersetzungen von Niklas Süle und Antonio Rüdiger mit Joshua Kimmich. Es fallen Worte, die so auch jeden Sonntag in der Kreisliga fallen, alles normal und leicht aufzulösen. Und dennoch spricht Flick das Thema in einer offiziellen Besprechung an, und macht es deshalb viel größer als es ist. Weil er auf Harmonie setzt. Mehrfach kommen Spieler zu spät zu Besprechungen, Flick ist darüber beleidigt und sanktioniert dennoch nicht. Verstehen die Spieler Flick und das, was er sagt?

An einer Stelle klingt er fast schon fatalistisch, weil er nicht durchkommt mit seinen Worten: „Ich weiß nicht, vielleicht rede ich auch irgendwie anders oder habe eine andere Sprache.“ Letztlich ist es jemand Unerwartetes, der die richtige Ansprache findet, das Team motiviert bekommt, es an seine Aufgaben erinnert: Neu-Nationalspieler Niclas Füllkrug. Ihm gelingt vor dem Spanien-Spiel eine fantastische Rede, er wirkt wie der heimliche Bundestrainer, bekommt tosenden Applaus von den Kollegen und spielt dennoch bei der WM nicht einmal von Anfang an.

DFB-Doku zeigt andere Facetten von Hansi Flick

Schließlich, kurz vor dem WM-Aus, in der Halbzeit des Costa-Rica-Spiels, verwandelt sich Flick, der sonst so sanfte, ruhige, bedachte Trainer in tobendes Wesen, wird laut, schreit: „Ich glaube, es geht los hier.“ Und: „Die sind so blind.“ So schlecht spielt seine Elf, so wenig setzt sie seine Vorgaben um. Und dennoch gibt es eine Wirkung: Deutschland gewinnt schließlich. Aber es reicht nicht. Das Team ist draußen.

Die Spieler mögen zu diesem Zeitpunkt auch noch ein wenig irritiert von einem Motivationsversuch sein, den der DFB-Psychologe Hans-Dieter Hermann aufbrachte. Also wird ein Film über den Formationsflug der Graugänse gezeigt. Diese Gruppe, so der Tenor, halte formidabel zusammen, und nur weil das so sei, schaffe sie deutlich mehr Strecke im Vergleich zu einzeln flatternden Vögeln dieser Art.

Flick sagt: „Lasst uns von den Gänsen lernen und gemeinsam unseren großen Flug machen.“ Schönes Bild, schlechtes Ergebnis: Zu sehen sind völlig verwunderte Nationalspieler. Klar, wenn sie als Weltmeister heimgekommen wären – die Graugans wäre gewiss zum neuen Maskottchen der DFB-Elf aufgestiegen. So aber geht das Filmchen als misslungene Motivationsposse einer völlig missglückten WM-Mission in die DFB-Geschichte ein. All or nothing eben.

Was das alles für Flick bedeutet, der unter Autoritätsverlust leidenden vermeintlichen Autoritätsfigur? Erste Antworten gibt es am Samstagabend nach dem Spiel gegen Japan. Und am kommenden Dienstag, wenn Vize-Weltmeister Frankreich in Dortmund zu Gast ist.

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